Magyria 01 - Das Herz des Schattens
liebsten würde ich einem davon mal so richtig durchs Fell wuseln.«
»In meinem Traum sind die Wölfe größer«, sagte Réka leise. »Die meisten sind grau. Nachtgrau. Nebelgrau. Grau wie der Fluss und der Himmel. Sie rennen durch den Wald. Einmal habe ich geträumt, wie sie über eine Ebene liefen, unter dem Mondlicht, durch das Gras, stundenlang. Ihre Beine wurden nicht müde. Sie liefen und liefen. Und dann heulten sie. Wir haben gesungen, und unser Lied hat die Nacht geöffnet.«
Der letzte Satz war so merkwürdig, dass Hanna stutzte. »Ihr habt gesungen? Du warst ein Wolf im Traum?«
»Ich konnte den Fluss schon riechen. Er riecht anders als jedes andere Wasser. Ich weiß, ich muss über den Fluss … Aber da sind die Wächter. Mit ihren tödlichen Pfeilen. Immer sind sie da, mit ihren Waffen, ihren Bögen und Schwertern, und ich spüre den Stahl durch meine Haut dringen.«
Réka schüttelte sich.
»Du erinnerst dich sehr gut an diesen Traum«, meinte Hanna zögernd. Ein kalter Schauer war ihr über den Rücken gelaufen, während Réka erzählte.
»Das ist keine große Kunst. Ich träume ständig das Gleiche. Lass uns ins Aquarium gehen.«
Attila war schon vor ihnen da. Gebannt starrte er in eins der Fenster.
Hanna hatte noch nie solche seltsamen Fische gesehen. Es war, als hätte jemand eine Reihe von Bleistiften in den Sand gesteckt und ihnen einen winzigen Kopf verpasst. Sachte wogten sie hin und her, dann neigten sie sich alle zueinander und schienen einen Kaffeeklatsch zu halten. Hanna beobachtete die Tiere fasziniert. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass in dem Aquarium noch andere Fische zu Hause
waren. Ein großer Skalar tauchte aus dem Hintergrund auf und schwamm über die friedlich tratschende Versammlung der merkwürdigen Bleistifte. So schnell, dass man es kaum verfolgen konnte, versanken sie im Untergrund, sodass nur noch die Köpfe herausschauten. Sobald die Gefahr vorbei war, glitten sie heraus, schaukelten umher und steckten erneut die Köpfe zusammen.
»Da kommt er wieder«, verkündete Attila begeistert. »Der Große da. Er ärgert sie. Jetzt, seht ihr?«
Der Fisch schien sich einen Spaß daraus zu machen, über die anderen hinwegzuschwimmen und sie so dazu zu zwingen, in den Sand zu tauchen.
»Was um alles in der Welt sind das für Viecher? Garden eels?« Jetzt hätte sie sich über eine deutsche Beschilderung gefreut. »Aale?«
Hanna drehte sich zu Réka um - aber hinter ihr standen nur fremde Zoobesucher, die allzu gerne ihren Platz einnahmen. Hanna ließ Attila stehen und versuchte Réka unter den anderen Menschen zu entdecken. Doch vor den zahlreichen Unterwasserwelten standen nur Fremde. Wo war das Mädchen denn jetzt hin? Vielleicht war sie zu den Wölfen zurückgekehrt, von denen sie doch so fasziniert gewesen war?
Am Ausgang vom Aquarium zögerte Hanna. Das Mädchen war immerhin vierzehn. Es war wichtiger, bei Attila zu bleiben und darauf zu achten, dass er nicht noch einmal verschwand. Sie kehrte zu dem Jungen zurück, der sich mittlerweile über riesige Schaben amüsierte, und schenkte ihm so viel Aufmerksamkeit, wie sie nur konnte, während sich in ihrem Hinterkopf das Rad der Sorgen im Kreis drehte.
Attila hatte Hunger, aber sie konnte ihm weder etwas geben noch etwas kaufen. Réka hatte den Rucksack, und damit war auch das Portemonnaie wer weiß wo.
»Hilft nichts«, sagte Hanna schließlich. »Wir müssen deine
Schwester suchen.« Mittlerweile fühlte ihr eigener Magen sich an wie ein Käfig, in dem eine unbekannte Spezies wütend knurrte. »Den ganzen Rundgang noch mal.«
Attila erwies sich als allzu hilfsbereit. Er wollte sich sofort auf die Suche machen, aber Hanna hielt ihn zurück, und diesmal gehorchte er zu ihrer großen Erleichterung. »Wir bleiben zusammen. Sonst muss ich dich nachher auch noch suchen.«
»Wenn die meine Kekse aufgefuttert hat, kann sie was erleben«, drohte er.
Für die Tiere hatte Hanna jetzt keinen Blick mehr. Sie eilte an den Gehegen vorbei, und mit jeder Minute wuchs ihre Unruhe. In die Tierhäuser schickte sie Attila hinein, damit sie Réka nicht verpasste, falls diese gerade dann vorbeikam, wenn sie drinnen waren.
»Ich will ein Eis. Warum kaufst du mir kein Eis?«, quengelte Attila. »Ich kann es nicht mehr aushalten!«
»Ich hab kein Geld. Wie oft soll ich es denn noch sagen?« Hanna schämte sich, dass sie ihn so anfuhr. Doch es war schwer, nicht gereizt zu sein, während man sich alles Mögliche vorstellte. Dass Réka
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