Magyria 01 - Das Herz des Schattens
herum, balgten sich um ein Stück Apfel und nahmen von den gaffenden Besuchern keine Notiz. Attila streckte immer wieder die Hand aus und versuchte sie zu streicheln.
»Lass das. Du verjagst sie, merkst du das nicht?«, zischte Réka. So unwillig sie auch mitgekommen war, so wenig konnte sie verleugnen, dass sie die Tiere gerne beobachtete. Sie wollte sich gar nicht von der Stelle rühren, so intensiv sah sie den Äffchen zu. Das war ein Zug an ihr, den Hanna noch gar nicht kannte - die Fähigkeit, sich voll und ganz auf etwas zu konzentrieren. Erst als Hanna darauf bestand, Attila zu folgen, der das warme Glashaus schon verlassen hatte, kam Réka endlich mit.
»Hast du die Faultiere bemerkt? Da ganz oben?« Réka lachte, und auch das war so selten und unverhofft, dass Hanna am liebsten alle schwierigen Themen aus ihrer Unterhaltung ausgeklammert hätte. Doch sie hatte sich fest vorgenommen, die heikle Frage anzusprechen, etwas anderes konnte sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren.
»Sag mal …« Eigentlich hätte Mónika das fragen sollen, nicht sie. Aber hier war sie nun mal. Hanna wand sich innerlich vor Verlegenheit und versuchte es möglichst beiläufig klingen zu lassen. »Ihr verhütet doch, oder? Warst du schon beim Frauenarzt?«
Sofort wurde Réka glühend rot. Sie betrachtete die Tiger in dem großen Gehege so eindringlich, als müsste sie danach eine Prüfung ablegen.
»Soll ich deine Mutter bitten, dass sie mit dir darüber spricht?«, fragte Hanna leise.
»Nein! Nein, ich meine … nein, so ist es nicht. Wir - ich glaube nicht.«
Hanna versuchte, aus der Antwort schlau zu werden.
»Ihr habt gar nicht …?« Das war schwer zu glauben. Sie hatte diesen Kunun gesehen, einen Mann, mit dem noch ganz andere Mädchen mitgehen würden. Was konnte er von Réka wollen, wenn nicht das?
»Ich weiß nicht.« In der Stimme des Mädchens lag so viel Verzweiflung, dass es Hanna schwerfiel, ruhig zu bleiben. »Ich …« Immer noch wich sie Hannas Blick aus und starrte den Tiger an, der an der großen Glasscheibe vorbeipatrouillierte. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe keine Ahnung, was geschieht, wenn ich mit ihm zusammen bin.«
»Was soll das heißen?« War sie nicht aufgeklärt? Meinte sie das? Aber das wollte Hanna irgendwie nicht glauben.
»Na ja, wenn ich ihn treffe, dann … Ich weiß nicht, was dann mit mir passiert. Ich sehe ihn an und dann - dann ist irgendwie alles weg. Alles. Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.«
Hanna brauchte eine Weile, um das zu verdauen. »Du vergisst alles?«
Réka nickte. Endlich schaute sie Hanna an; in ihrem Blick lag eine herzzerreißende Traurigkeit. »Das dürfte es doch gar nicht geben, oder? Bin ich vielleicht verrückt? Ich dachte schon, ich bin wie diese Leute, die mehrere Ichs haben …«
»Eine multiple Persönlichkeit? Unsinn.« Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf. »Er gibt dir doch keine K.o.-Tropfen oder so was?«
Réka versuchte zu lachen. »Wenn es so wäre, wüsste ich es nicht mehr, oder? Aber nein. Dann müsste ich mich wenigstens daran erinnern, dass ich etwas getrunken habe. Doch da ist nichts. Glaub mir. Kunun hat damit nicht das Geringste zu tun.«
Sie blickte so untröstlich drein, dass Hanna sie spontan in die Arme schloss. Sie hielt Réka ganz fest. Das Mädchen war so klein und zart. Niemand durfte ihr irgendetwas antun. Hanna begann Kunun aus ganzem Herzen zu hassen. Dass dieser Kerl nichts damit zu tun hatte, würde nicht einmal sein Beichtvater glauben, wenn er denn einen hätte. Unwillkürlich musste Hanna wieder an die alte Putzfrau und ihre Schimpftirade denken. Baj. Gonosz. Vér.
Sie streichelte Rékas Haar und zuckte plötzlich zurück. Am hellen Hals des Mädchens entdeckte sie zwei kleine, runde Punkte aus getrocknetem Blut.
Nach ihrem Geständnis wurde Réka richtiggehend zutraulich. Sie hakte sich bei Hanna unter, erzählte von der Schule, während sie unentwegt Süßigkeiten futterte, und hatte sogar ein kleines Lächeln für Attila übrig, der sie zu diesen und jenen Tieren zog.
Erst am Wolfsgehege wurde sie wieder still. Nachdenklich betrachtete sie die großen weißen Tiere mit dem dichten Fell, die dösend auf den Felsen lagen. Von ferne hörte man die lauten Rufe der Aras. Ein Zug rauschte dicht hinter der
Zoomauer vorbei. Réka stand da, in den Anblick der Wölfe versunken, und rührte sich nicht.
»Polarwölfe«, sagte Hanna. »Sind sie nicht wunderschön? Sie sehen so kuschelig aus, am
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