Magyria 01 - Das Herz des Schattens
moderner aussah als Hannas alte Schule, weckte Erinnerungen. So lange war es nun auch nicht her, dass sie die Schulbank gedrückt hatte, und es fühlte sich merkwürdig an, nicht dazuzugehören. Sie war erwachsen. Vielleicht waren einige der Schüler hier nicht jünger als sie, und trotzdem befand sie sich in einem anderen Lebensabschnitt. In dem man auf kleine Attilas aufpasste und blassen, verlogenen Rékas hinterherspionierte. Das Dumme war, es fühlte sich an, als wären es ihr Bruder und ihre Schwester, für die sie verantwortlich war. Genauso fühlte es sich an.
Ihr Schützling war nicht da. Hanna wollte sich nicht allzu auffällig umblicken, obwohl sie bislang keine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, leicht nach vorne gebeugt, schlenderte sie über den Schulhof.
Réka war nicht doof. Sie würde sich natürlich nicht vor aller Augen mit Kunun treffen, wo ein Lehrer sie zusammen sehen konnte. Wo ein paar Hundert neugierige Blicke sie verfolgten. Sie würde eher … vielleicht da hinten, wo die Büsche standen …
Genau da war sie. Nicht mit einem Mann, sondern in einer Gruppe schwatzender Mädchen, die ihr auf eine undefinierbare Art ähnelten. Alle vierzehn, dachte Hanna düster. Alle gleich lässig und von ihrer eigenen Wichtigkeit
überzeugt. Man merkte es an jeder Handbewegung, wie überaus bedeutend sie waren. Hanna traute sich nicht nahe genug heran, um mitzuhören, worüber die Schülerinnen redeten.
Réka stach aus der Gruppe nicht heraus, sie war wie ein Zwilling der anderen, ein Klon, was Kleidung und Gesten betraf. Hanna hatte das Gefühl, dass hier ein anderer Mensch stand als die Réka, die sie zu Hause erlebte.
Sie seufzte leise. Vielleicht war es bei ihr nicht anders gewesen. Auf einmal fühlte sie sich unerhört schlecht, weil sie die Tochter ihrer Gasteltern bespitzelte, nur um herauszufinden, warum das Mädchen so unverschämt zufrieden war. Hanna machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Auto zurück.
Im Rückspiegel betrachtete sie ihr Gesicht unter der Baseballkappe. So weit war es also schon mit ihr gekommen. Eine Heldin auf Gespensterjagd!
Entschlossen legte sie den Gang ein. Schluss damit. Jetzt war endgültig Schluss. Sie würde von nun an versuchen, sich wie ein vernünftiger Mensch zu verhalten, und erst einmal eine Runde joggen gehen.
Nirgendwo ließ es sich so gut und ungestört laufen wie auf der Insel. Hanna nutzte gerne den extra für Läufer angelegten Weg mit dem weichen Boden, aber heute musste sie durch den Park. Sie wollte die Natur um sich spüren, wollte das Gefühl auskosten, wie gut es war, am Leben zu sein. Hier zu sein. Sie selbst zu sein. Am besten konnte sie das beim Laufen. Dass es kalt war und regnete, machte ihr nichts aus. Mit jedem Schritt, während sie fühlte, wie ihr warm wurde, wie ihr Herz schlug, ging es ihr besser. Alle düsteren Gedanken verflogen. Noch eine halbe Stunde und sie würde über alles herzlich lachen können. Am Tiergehege vorbei, wo die gefangenen Raubvögel ihr wissend hinterherblickten. Die riesigen alten Bäume, deren kahle Äste
bizarr in den Himmel ragten - wurden ihre Sorgen dabei nicht gänzlich unbedeutend? Die Ruinen des Klosters, in dem die heilige Margarethe gelebt hatte. Und da auf der Bank ein Liebespaar. Wie verliebt musste man sein, um sich in der Adventszeit, bei dem ungemütlichen Wetter, auf einer Bank zu küssen? Die Frau, rothaarig, lehnte den Kopf gegen die Brust ihres Begleiters, weshalb Hanna ihr Gesicht nicht sehen konnte. Aber sie wusste auch so, wer es war. Die ganze Normalität, die sich langsam wieder um sie herum aufgebaut hatte, löste sich mit einem Schlag in Luft auf.
Der Mann sah sehr bleich aus, doch am meisten erschrak Hanna über seinen leeren Blick. Er starrte geradeaus, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Hanna rannte unwillkürlich schneller; sie war sich nicht sicher, ob Atschorek sie bemerkt hatte. Himmel, was hatte die Frau diesem Mann angetan?
Er hatte ausgesehen wie Réka. Ausgezehrt. Erschöpft. Kraftlos, leblos, wie ein Fremder in dieser Welt.
Hanna lief, als ginge es um ihr Leben, dann blieb sie keuchend stehen und hielt sich die schmerzende Seite. Sie schaute über die Schulter zurück - von hier aus war die Bank nicht zu sehen. Ein Liebespaar? Von wegen! Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, drehte sie um und lief zurück. Sie näherte sich der Bank, auf dem das ungleiche Pärchen immer noch saß, und versteckte sich hinter den Ruinen.
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