Magyria 01 - Das Herz des Schattens
Vorsichtig riskierte sie einen Blick über die Ziegelmauer. Atschorek setzte sich gerade aufrecht hin und streichelte die Wange des Mannes, dann lehnte sie sich zurück, einen seligen Ausdruck im Gesicht, und lächelte. Sie war so unbeschreiblich schön, dass ein älterer Spaziergänger gebannt stehen blieb und ehrfürchtig grüßte, bevor er weiterging.
Die junge Frau schien ihrem Begleiter etwas ins Ohr zu flüstern, dann stand sie auf und eilte mit raschen Schritten davon. Der Mann blieb regungslos auf der Bank sitzen.
Hanna wartete eine Weile, dann wagte sie sich aus der Deckung und trat auf ihn zu.
»Darf ich?« Sie nahm in gebührendem Abstand neben ihm Platz. Jetzt erst erkannte sie den Möchtegern-Casanova, der ihnen im Déryné etwas hatte ausgeben wollen. Von dem vielleicht etwas zu charmant auftretenden Kerl war nur eine Hülle geblieben. »Wir kennen uns«, sagte sie. »Wissen Sie noch?«
Der Mann wandte den Kopf und starrte sie an, was ihm sichtlich Mühe bereitete. »Was?«
»Darf ich mal Ihren Hals sehen?« Hanna wartete die Antwort nicht ab. Sie zog seinen Kragen einfach etwas hinunter und erschrak nicht einmal, als sie die beiden Einstiche in seiner Haut bemerkte. Die Punkte schimmerten dunkel.
»Wir kennen uns?«, fragte der Mann lahm und blickte sich mit einiger Verwunderung um. »Hast du mich hergebracht?« Dann wurden seine Augen langsam klarer, und er fragte: »He, bist du nicht die Freundin von … wie hieß sie noch mal? War sie nicht …?« Dann sah er auf einmal auf seine Armbanduhr, sprang mit einem Fluch auf und hastete den Weg hinunter.
Hanna verharrte noch einen Moment. Sie merkte nicht einmal, dass der Regen stärker wurde und die Kälte sich durch ihre Kleidung fraß. Atschorek. Wieso traf sie schon wieder auf Atschorek, schon zum zweiten Mal? Zufällige Begegnungen in einer Stadt wie dieser?
Wir brauchen uns nicht zu verabreden, hörte sie Rékas Stimme in ihrem Ohr. Wo ich auch hingehe, ist er schon da.
» Mit mir nicht«, flüsterte Hanna. »So leicht kriegt ihr mich nicht klein. Ihr bekommt keinen von uns.«
DREIZEHN
AKINK, MAGYRIA
Seinem Ziel, wieder in die Nachtpatrouille aufgenommen zu werden, war Mattim natürlich keinen Schritt näher gekommen. Zunächst durfte er nicht einmal mehr Tagdienst verrichten, sondern hatte die strikte Anweisung, im Schloss zu bleiben. Obwohl er wusste, dass der König es nicht gern sah, begann er tagsüber zu schlafen und die Nächte draußen auf der Wehrmauer zu verbringen, ein Nachtwächter im eigenen Dienst. Wütend marschierte Mattim auf der Wehrmauer hin und her und starrte hinaus auf den Fluss und den Wald dahinter, wie ein Schiffbrüchiger, der nach Land Ausschau hält.
»Man hat mir gesagt, dass du hier bist.« König Farank verstand es, jede Missbilligung aus seiner Stimme zu entfernen, dennoch spürte Mattim den Tadel.
»Du kannst mich jederzeit Morrits Patrouille zuteilen«, sagte er.
»Reicht es dir nicht? Was in jenem Dorf fast geschehen wäre? Was mit deinen Kameraden von der Tagwache passiert ist? Wenn nicht, sollte der Befehl deines Vorgesetzten dir reichen. Und der deines Königs.«
»Sie werden mir nichts tun.« Davon war der Prinz überzeugt. Es hätte keinen besseren Beweis geben können als die Nacht im Dorf und die Verfolgungsjagd durch den Wald. Morrit war dafür geehrt worden, dass er den Königssohn zurück nach Akink gebracht hatte, aber Mattim wusste es besser. Jetzt, da er erfahren hatte, worauf der Jäger aus war, fühlte er sich dazu fähig, alles zu tun und alles zu erreichen.
Sie warteten auf ihn, doch ab sofort würden sie ihn in Ruhe lassen, und wenn er nicht zu ihnen ging, was konnten sie dann schon tun?
»Glaubst du, die Schatten fürchten dich?«, fragte Farank. »Das tun sie nämlich nicht.«
Manchmal, wenn er die Augen schloss, sah er die kleinen Wölfe vor sich, die mit seiner Hand spielten, und dahinter im Dämmerlicht des Waldes den großen, schlanken Mann mit dem schwarzen Mantel. Manchmal hörte er die Stimme des Jägers, die ihn rief, eine Stimme ohne Zaubermacht. Es bereitete ihm ein unwiderstehliches Vergnügen, sich daran zu erinnern und zu wissen, dass die Schatten keine Macht über ihn hatten, dass sie nicht dazu fähig waren, ihn zu sich zu rufen. Selbst ihr König nicht.
»Mattim, hör mir zu.« Farank kam nicht dazu, seinem Sohn weiter ins Gewissen zu reden. Der laute Ruf des Horns zerriss die Nacht, ein Ruf von jenseits des Flusses aus den Wäldern.
»Das ist die
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