Magyria 01 - Das Herz des Schattens
aufsetzte. Zum ersten Mal schnupperte sie ungarische Luft. Ihr Zuhause für die kommenden Monate. Und der schwarzhaarige Mann dort mit den dunklen Augen, der nun mit einem Lächeln auf sie zutrat, würde ihr Vater sein. Oder jedenfalls so etwas Ähnliches. Ihr Gastgeber, Gastvater, Arbeitgeber, alles zusammen.
Der kleine Junge neben ihm war noch süßer als auf dem Foto. Mit unverhohlener Neugier blickte er ihr entgegen. Ihn begrüßte sie zuerst. »Szervusz.« Sie wollte sich auf Ungarisch vorstellen, aber ausgerechnet in diesem Moment waren alle ungarischen Vokabeln auf Nimmerwiedersehen verschwunden. »Ich bin Hanna. Du musst Attila sein.«
»Willkommen in Budapest. Bitte nennen Sie mich Ferenc.«
»Ich freue mich, hier zu sein, Ferenc.« Sie kam sich vor, als spulte sie Sätze aus einem Lehrbuch ab, doch etwas Gescheiteres fiel ihr nicht ein.
Ferenc Szigethy gab ihr die Hand, während sein Sohn sich weiterhin damit begnügte, die Fremde anzustarren.
»Er ist eigentlich nicht schüchtern. Kommen Sie, Hanna, ich nehme die Koffer.«
Er verstaute ihr Gepäck in einem riesigen schwarzen Porsche Cayenne. Hanna hatte noch nie in einem solchen Auto gesessen und war fest entschlossen, die Fahrt durch die Stadt zu genießen, allerdings machte der dichte Verkehr sie nervös. Mit Schrecken dachte sie daran, dass man auch von ihr erwartete, hier Auto zu fahren, und obwohl sie beim letzten Telefonat versichert hatte, dass sei gar kein Problem für sie, fragte sie sich jetzt, ob sie sich da nicht überschätzt hatte.
»Ganz schön viel Verkehr«, bemerkte sie. »Ist das immer so?« Sie fuhren gerade an einem Verbotsschild vorbei,
das Traktoren und Pferdefuhrwerken die Weiterfahrt untersagte.
Ferenc warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen. Wir sind alle sehr gespannt.«
»Sie sprechen sehr gut Deutsch«, sagte Hanna. »Das hatte ich gar nicht erwartet. Ich meine …«
Sie hatte zwar mehrere Telefongespräche geführt, um alles abzuklären, aber immer mit seiner Frau, die ziemlich gebrochen deutsch sprach.
»Oh, meine Mutter ist Deutsche«, erklärte Ferenc. »Sie haben sicher von den Donauschwaben gehört?«
Das hatte Hanna nicht, aber sie nickte, als er erläuterte, dass es ihm aus diesem Grund so wichtig war, seine Kinder perfekt Deutsch sprechen zu hören.
»Die beiden freuen sich«, sagte er. »Sehr. Sie konnten es gar nicht erwarten. Attila hat schon jeden Tag gefragt, wann Sie endlich kommen.«
Der Junge rutschte auf der Rückbank hin und her und interessierte sich im Moment für alles außerhalb des Fahrzeugs, nur nicht für sie. Für einen Siebenjährigen war er recht klein. Und recht schweigsam; er hatte noch kein einziges Wort gesagt.
Ferenc sah wirklich so aus, wie sie sich ihn vorgestellt hatte. Auf dem Foto, das die Familie ihr gemailt hatte, war er der Mittelpunkt gewesen, um den sich Frau und Kinder gruppiert hatten. Groß und recht attraktiv, Mitte vierzig und immer noch mit vollem schwarzem Haar und einem kleinen Schnauzbart. Oft hatten die Leute wenig Ähnlichkeit mit ihrem fotografierten Abbild, Ferenc dagegen war genauso sicher, höflich und wahrscheinlich auch stur, wie er auf sie gewirkt hatte. Etwas an der Art, wie er gesagt hatte, dass alle sich freuten, machte Hanna ein wenig stutzig. Eigentlich konnte sie die Stimmungen der Menschen um sich herum recht gut erkennen. Wenn es irgendetwas gab, was
sie besonders auszeichnete, dann war es wohl das. Empathie war kein Talent, mit dem man sich viele Freunde machte, auch wenn sie selbst manchmal überrascht war, wie wenig ihr diese Gabe nützte. Oft wäre es leichter gewesen, einfach geradeaus seinen eigenen Weg zu gehen, ohne so viel von den Gefühlen anderer mitzubekommen. Unter Gleichaltrigen war es jedenfalls nicht angesagt, zu viel zu fühlen. Wer sich ständig darüber Gedanken machte, wie andere empfanden, konnte weder bei Streichen mitmachen noch beim Lästern seine Fantasie ausleben. Immerzu die Außenseiter zu verteidigen und sogar mit den unbeliebtesten Lehrern mitzuleiden, machte einen auf Dauer selbst zum Außenseiter.
Hanna war froh, dass die Schulzeit vorbei war. Mehr als froh, mehr als die anderen je verstehen würden, mehr als ihre Eltern begreifen konnten. Sich nach der Qual der langen Schuljahre als zu gute, zu schüchterne und zu mitfühlende Schülerin gleich in einen Hörsaal zu setzen, war für sie nicht infrage
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