Magyria 01 - Das Herz des Schattens
entschuldigte sie sich.
Das Mädchen lächelte vorsichtig.
»Zeigen wir Hanna doch erst mal, wo sie schlafen wird«, ergriff Ferenc die Initiative. »Vielleicht möchten Sie sich vor dem Essen noch frisch machen? Hier ist das Bad. Und das hier ist Rékas Zimmer. Réka, hast du nicht mitbekommen, dass Hanna da ist?«
Er klopfte und öffnete die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten.
Auf dem Bett saß ein blasses Mädchen mit kinnlangen schwarzen Haaren. Betont lässig blätterte sie in einer Zeitschrift. Hanna fiel auf, dass sie Stiefel anhatte. Wer trug schon zu Hause in seinem Zimmer Stiefel? Die ganze pubertäre Coolness wirkte reichlich aufgesetzt. Auf dem Foto hatte Réka noch braune Haare gehabt und ein freundliches Lächeln wie ein braves Schulmädchen gezeigt. Hanna hatte sich so fest vorgenommen, mit den Kindern gut klarzukommen. Deswegen war sie ja hier, für diese Kinder, auch wenn Réka kaum jünger war als sie selbst. Ganze vier Jahre. Hanna konnte sich noch gut daran erinnern, wie es gewesen war, vierzehn zu sein.
»Szia«, sagte sie zur Begrüßung.
Das Mädchen versuchte, den Ausdruck grenzenloser Überraschung mit verächtlicher Langeweile zu kombinieren. »Szia«, gab sie zurück und widmete sich trotzig wieder ihrer Lektüre.
Ferenc seufzte und öffnete die nächste Tür. Dahinter lag, wie unschwer zu erkennen war, das Zimmer des kleinen Jungen. In diesem Chaos hätte es kein halbwegs normaler Erwachsener ausgehalten, aber wie Hanna von den Nachbarskindern wusste, auf die sie regelmäßig aufgepasst hatte, gediehen Kinder wie Pflanzen am besten in einer Mischung aus Erde, Schmutz und Steinen. Ob es am Ende ihres Aufenthalts hier immer noch so aussehen würde, das würde sich ja zeigen.
Das nächste Zimmer schien eine Kombination aus Arbeitszimmer
und Rumpelkammer zu sein. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Berge von Papieren und Ordnern, die dem Himalaya Konkurrenz zu machen versuchten. Eine Couch, die jemand mit einem völlig anderen Geschmack gekauft haben musste - die edle Garnitur im Wohnzimmer hätte nie vermuten lassen, dass es in dieser Wohnung auch solche Fundstücke gab -, behauptete ihren Platz unter einem unsäglichen Ölgemälde.
»Wir sind mit dem Aufräumen nicht ganz fertig geworden«, gab Ferenc zu, nicht im Mindesten zerknirscht. »Wenn ich die Sachen in den Keller gebracht habe, müsste es hier eigentlich ganz wohnlich sein.«
»Es ist - nett«, sagte Hanna, nur um irgendetwas zu sagen.
Das war also ihr Zimmer. Das war der Raum, in dem sie ein Jahr lang wohnen sollte. Elf Monate, um genau zu sein.
Sie stellte ihre Tasche auf dem Schreibtischstuhl ab. Das Bügelbrett und der Staubsauger in der Ecke würden hoffentlich noch einen anderen Platz finden. Der Schrank war, wenn man von der antiken Aura absah, wenigstens recht praktisch. Dass er allenfalls Jugendherbergsqualität hatte, sollte sie jetzt nicht stören. Was hatte sie sich denn vorgestellt?
»Unsere Putzfrau hat gekündigt«, erklärte Ferenc, der ihr Schweigen richtig deutete. »Aber das kriegen wir schon hin. Und keine Sorge, ihren Job müssen Sie nicht übernehmen. Wir haben bald jemand Neues, versprochen. Ich hole schon mal die Koffer. Dann essen wir zusammen, ja?«
An ihrem ersten Abend konnte Hanna trotz Müdigkeit lange nicht einschlafen. Sie hatte noch eine Zeit lang mit Mónika und Ferenc im Wintergarten gesessen. Ungemütliche Stille gab es in diesem Haushalt offenbar nicht. Ferenc ergriff immer das Wort, bevor allzu große Verlegenheit aufkommen konnte. Seine Stimme gab Sicherheit und flößte Vertrauen ein. Wenn er mit ihr sprach, wandte er sich ihr
mit dem ganzen Körper zu und widmete ihr seine volle Aufmerksamkeit. Von ihrer Familie wollte er alles wissen. Von ihren bisherigen Erfahrungen mit Kindern. Er fragte sie nicht direkt aus, sondern kleidete seine Fragen in eine charmante, lässige Plauderei. Hanna war sich zwischendurch nicht ganz sicher, ob Mónika immer mitkam. Die Ungarin hielt ihr Glas minutenlang in der Hand, ohne zu trinken - bester Tokaier, zur Feier des Tages -, und lächelte in einem fort zustimmend. Hanna hätte sich gerne noch mehr mit ihr unterhalten, doch Ferenc übernahm das Reden auch für sie.
»Jetzt kannst du endlich auch nachmittags und abends Musikstunden geben«, sagte er. »Wenn Hanna sich um Attila kümmert. Er ist ja gerade erst eingeschult worden. Man muss immer darauf achten, dass er auch seine Hausaufgaben macht«, fuhr er an Hanna gewandt fort, »und dass er
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