Magyria 01 - Das Herz des Schattens
du lebensmüde? Wo ist dein Trupp?«
Mirita wich zurück, als er einen Schritt auf sie zumachte.
»Komm bloß nicht näher! Bleib, wo du bist!«
Abwehrend hob er die Hände. »Mirita, hör auf. Ich bin kein Schatten. Ich bin ich, klar? Leg den Bogen weg, du machst mich nervös.«
»Einen Schritt näher, und ich treffe dich geradewegs ins Herz«, warnte sie, als könnte man einen Schatten damit schrecken. »Bleib stehen. Nein, geh da rüber, wo ich dich besser sehen kann.«
»Du hast noch nicht auf die Frage geantwortet, was du allein hier machst.«
»Was ich tue? Beim Licht, du fragst mich, was ich tue? Wir haben deinen Umhang am Donua-Ufer gefunden, deine Schuhe. Deine Mutter hat sich die Augen ausgeweint. Wir glaubten schon, du wärst ertrunken. Dann wurde es dunkel. Da wussten wir, was geschehen war. Du gehörst jetzt zu ihnen. Und nun …«
Ihre Stimme versagte, doch ihre Hände zitterten nicht mehr. Sie zog den Arm zurück, um den Bogen noch weiter zu spannen.
»Nein! Ich bin kein Schatten. Mirita, glaub mir doch. Schieß nicht! Was soll das heißen, es wurde dunkel?«
»Fragst du das im Ernst?«, hakte sie ungläubig nach. »Findest du es etwa hell? Findest du das normal? Es ist, als wäre ein Gewitter im Anzug, das jeden Moment losbrechen könnte.«
»Aber, jetzt am Abend …«
»Abend?«, schrie sie ihn an. »Abend? Mattim, es ist Tag! Helllichter Tag, oder zumindest das, was ein Tag sein sollte!«
Ein kalter Schauer überlief ihn. Es konnte nicht sein. Das konnte nichts mit ihm zu tun haben.
»Ich bin kein Schatten«, wiederholte er stur. »Glaub mir, Mirita. Ich bin durch den Donua geschwommen, ich hab irgendwo geschlafen, in einem Versteck, unter Baumwurzeln.« Ihm blieb nichts anderes übrig als zu lügen. Die Wahrheit würde sie nur in ihrem Glauben bestärken, dass er zum Feind übergelaufen war. »Ich will nach Hause. Hör endlich auf. Ich will einfach wieder nach Hause gehen.« Er öffnete sein Hemd. »Siehst du? Nichts.«
Mirita starrte ihn an. Dann schleuderte sie den Bogen fort und fiel ihm weinend um den Hals. »Oh, Mattim! Ich dachte schon … wir alle dachten …«
Er legte die Arme um sie und atmete den süßen Duft ihres Haares ein. Alles an ihr roch süß. So warm und lebendig drängte sie sich an ihn, so unwiderstehlich. Vorsichtig ließ er die glänzenden Strähnen durch die Finger gleiten und verbot sich, an den Käfig zu denken. Die Stäbe. Das Gitter. Den fuchsroten Wolf.
»Oh, Mattim. Ich dachte, ich hätte dich verloren. Ich dachte, du wärst tot.« Mirita schluchzte. Er hielt sie so eng an sich gepresst, wie er nur konnte, ohne ihr wehzutun. Zärtlich streichelte sie ihm über den Rücken. Er küsste ihre Wangen und schmeckte die salzigen Tränen. Seine Lippen begegneten ihren. Mit einem leisen Seufzer erwiderte sie seinen Kuss. Ein solcher Hunger erwachte in ihm, dass er gar nicht mehr aufhören konnte, sie zu küssen. Ihren Mund und ihr Gesicht und ihr Haar und ihren Hals.
Mirita lachte und versuchte ihn von sich zu schieben. »Wir müssen hier weg. Die anderen …«
»Welche anderen?«
In diesem Moment berührten ihre streichelnden Hände die Stelle, wo der Wolf ihn gebissen hatte. Mattim konnte nicht verhindern, dass er heftig zusammenzuckte. Mirita machte einen Satz rückwärts und starrte auf das Blut an ihren Fingern.
»Nein«, sagte er rasch, »es ist nicht, was du denkst. Mirita, bitte glaub mir, es ist nicht …«
»Schatten«, flüsterte sie. Sie wich weiter zurück und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Mirita …«
»Du bist ein Schatten! Und ich dachte … Oh, nein, nein!« Er glaubte schon, sie würde anfangen zu kreischen, stattdessen steckte sie Daumen und Zeigefinger in den Mund und stieß einen lauten, schrillen Pfiff aus, der in den Ohren
schmerzte. Von irgendwo, höchstens hundert Meter entfernt, antwortete der Ruf eines Horns.
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, bückte sie sich nach ihrem Bogen.
»Ihr seid auf der Jagd nach mir?«, fragte er fassungslos. »Was bist du, der Köder?«
»Ich bin Flusshüterin.« Stolz reckte Mirita die Stirn hoch, aber er bemerkte die Angst in ihren Augen, und das verletzte ihn mehr als ihre Absicht, auf ihn zu schießen.
»Ich bin immer noch ich«, sagte Mattim. »Ich habe dir nichts getan. Ich habe dich nicht gebissen, obwohl ich wahrlich nah genug dran war. Mirita, bitte …«
Sie fand den Pfeil und hob ihn auf. Im selben Moment hörte er die ersten Wächter durchs Unterholz
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