Magyria 01 - Das Herz des Schattens
er an einer Wurzel hängen und schlug der Länge nach zu Boden. Mattim wusste sofort, dass er nicht mehr würde aufstehen können. Seine Beine, seine Lungen, sein ganzer Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen. Hinter ihm waren die Wölfe, er sah sie näher kommen, die Zähne gefletscht, näher, mit geöffnetem Rachen … Es waren nicht nur zwei. Von allen Seiten kamen sie auf ihn zu, zehn, zwanzig, ein Meer aus grauen Leibern
in den unterschiedlichsten Schattierungen. Nur vor ihm war noch ein Durchgang, dort musste er hin, dann würde er frei sein …
Alles, was in ihm leben wollte, zwang ihn nahezu ohne sein Zutun, sich aufzurappeln und weiterzulaufen. Geradezu quälend langsam schleppte er sich weiter - und stand plötzlich vor dem Käfig. Eine der Fallen, die sie für die Wölfe aufgebaut hatten. Nach wie vor kamen die Bestien von allen Seiten näher, schon spürte er spitze Zähne an seiner Hand, an seinem Bein. Mattim lachte laut auf, warf sich nach vorne, zwischen die schützenden Eisenstäbe, da krachte auch schon die Klappe ins Schloss und rastete ein. Er sah noch die unzähligen grauen Leiber, die den Käfig umkreisten und vergeblich versuchten, durch das Gitter nach ihm zu schnappen. Der harte, kalte Metallboden entwickelte eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Der Prinz rollte sich zusammen, bettete den Kopf auf seinen Arm und schlief ein.
FÜNFZEHN
VOR AKINK, MAGYRIA
Etwas kitzelte ihn an der Nase, an den Lippen. Mattim öffnete die Augen und sah sich einem riesigen, kreisrunden schwarzen Auge gegenüber.
Mit einem Schrei setzte er sich auf.
Das Kaninchen, genauso erschrocken wie er, versuchte zu flüchten, wurde von dem dünnen Seil an seinem Hinterlauf festgehalten und keuchte vor lauter Entsetzen.
Benommen strich sich der Prinz die Haare aus dem Gesicht. Die Wölfe. Sie waren wieder in seinen Traum gekommen. Sie jagten ihn vor sich her, und er warf sich herum und stellte sich ihnen. Knurrend und winselnd rollten sie alle über den Waldboden, über Wurzeln und Blätter, und keinen Augenblick lang wunderte er sich über seine eigenen vier Pfoten oder sein Fell oder die vielen Tausend Gerüche des Waldes, die ihn umgaben wie ein Geflecht aus Glück.
Seine Finger berührten Metall. Gitterstäbe. Der Käfig! Sofort war er wieder hellwach.
Dumpf erinnerte er sich an die blinde Zuversicht, dass die Flusshüter ihn finden und befreien würden. Doch als er sich umblickte, schwand diese Hoffnung.
Er saß immer noch im Käfig - allerdings stand der nicht mehr im Wald, zwischen Bäumen und Gesträuch, sondern in der Höhle, in derselben Höhle, in der Palig und Alita von den Schatten angegriffen worden waren, im Dunkeln. Diesmal war das hohe Gewölbe durch einige kniehohe Öllaternen erleuchtet, die jemand im Halbkreis um den Käfig herum platziert hatte.
Wer hatte sich wohl die Mühe gemacht, den gesamten Käfig herzutragen, obwohl es viel einfacher gewesen wäre, ihn zu befreien, während er schlief?
Das Kaninchen beobachtete ihn furchtsam und entschied sich, einen neuen Versuch zu wagen. Wieder hoppelte es näher und schnupperte.
»Suchst du Futter?«, fragte er leise und erschrak über seine Stimme in dem leeren, stillen Gewölbe. Er wusste, in welchem Käfig er sich befand. In einem einzigen musste ein Kaninchen den Köder spielen; sie waren dazu übergegangen, nur noch Geflügel einzusetzen, weil es sich nicht so leicht befreien konnte wie ein Tier mit langen, emsigen Zähnen, das zudem durch jeden noch so engen Spalt passte.
Mattim packte das flauschige Wesen und entfernte die Schlinge mit einem gezielten Griff. Diesmal ließ er es los, bevor es ihn kratzen konnte. Das Kaninchen trommelte empört. Es hatte noch nicht begriffen, dass es jetzt durch die Stäbe verschwinden konnte. Alles hätte Mattim gegeben, um sich ebenfalls unsichtbar machen zu können. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das Gitter und wartete auf die Schatten.
Wirklich überrascht war er nicht, sie zu sehen. Diese Frau, schon wieder, mit den ungewöhnlich kurzen Haaren, mit dem schönen, stolzen Gesicht. Auf einmal war sie da, er hatte gerade in die falsche Richtung geblickt, und da stand sie hinter ihm. Ihre Hand lag auf dem Kopf eines großen rötlichen Wolfs mit wilden bronzefarbenen Augen. Die Schattenfrau wirkte so unfassbar lebendig, und Mattim konnte kaum glauben, dass sie kein Mensch war. Doch ihr weit ausgeschnittenes schwarzes Kleid zeigte rote Narben, die Spuren eines Bisses direkt über dem
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