Magyria 01 - Das Herz des Schattens
schrie. Er sagte sich: Dies geschieht nicht. Es geschieht nicht, nicht mir …
Der Wolf betrat den Käfig, dessen Klappe sofort wieder herunterrasselte, fixierte ihn mit dunklem, rätselhaftem Blick und zeigte ihm einmal kurz die Zähne, bevor er blitzschnell zuschnappte.
Der Schmerz explodierte in Mattim, eine Feuersbrunst, die ihn bis in die Fingerspitzen ausfüllte, die jeden Gedanken, jedes andere Gefühl verbrannte. Das Feuer, weiß glühend, loderte in ihm auf und schlug über ihm zusammen. Der junge Prinz hörte sein eigenes Geschrei wie aus weiter Ferne. Er breitete die Arme aus wie ein Ertrinkender, und da es nichts anderes gab, um sich festzuhalten, schlang er sie um den Nacken des Wolfs und klammerte sich an ihn. Das Letzte, was er sah, bevor er in eine gnädige, wolkenweiche Nacht tauchte, waren die bronzenen Augen des Wolfs, nicht mehr hasserfüllt, nur noch voller Mitleid, die Augen eines Bruders.
Als er erwachte, lag der Wolf noch immer neben ihm. Sein warmer Leib hob und senkte sich regelmäßig. Mattim beobachtete das Tier und wunderte sich ein wenig darüber,
dass er absolut keine Furcht mehr verspürte. Er erinnerte sich an die Angst, aber sie war so weit weg, nicht als wäre es erst gestern gewesen, sondern vielleicht vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden, eine Angst aus einer Zeit, in der Mensch und Wolf nichts als Jäger und Gejagte gewesen waren, mal das eine und mal das andere.
Mit der Hand fuhr er durch den dichten Pelz des Wolfs, der seelenruhig weiterschlief. Sein Körper strahlte eine solche Wärme aus, dass Mattim gar nicht anders konnte, als ihn zu umarmen. Bei der Bewegung durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz. Er schob sein Hemd hoch und verdrehte sich, um die Stelle am unteren Rücken zu betrachten, gleich neben dem Beckenknochen. Dunkelrot zeichnete sich die Bissspur von seiner Haut ab.
Mattim seufzte. Er fühlte sich nicht anders als gestern. Er war immer noch er, wusste genau, dass er das war, derselbe wie gestern. Dennoch war da der Abdruck der Wolfszähne an seiner Hüfte.
Bei der kleinsten Berührung begann die Stelle wieder zu schmerzen und sandte Feuerpfeile in alle Richtungen. »Und jetzt tust du so zahm«, flüsterte er, tätschelte den Wolf noch einmal und stand auf.
Jegliches Zeitgefühl war ihm völlig abhanden gekommen, und er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Die Laternen flackerten leicht, einige waren schon ausgegangen. Die Hälfte des Käfigs lag im Schatten.
Von Atschorek war nichts zu sehen. Anscheinend hielt sie es nicht für nötig, ihn zu bewachen, weil sie den Wolf bei ihm zurückgelassen hatte. Mattim drehte sich noch einmal zu dem Tier um, das zusammengerollt im Käfig lag. Gerade öffnete es ein glänzendes Auge, da stürzte Mattim auch schon hinaus in den Gang und nach draußen.
Es war tatsächlich die Höhle gewesen, die er kannte und in der er seine Gefährten verloren hatte. Hier, auf dem Platz davor, schien ihm das Ganze mehr denn je wie ein Traum.
Dass er durch den Fluss geschwommen war und von Wölfen gehetzt worden war, konnte nichts anderes sein als ein Albtraum, geboren aus Verwirrung und Panik. Aber jeder Schritt tat weh. Es war nicht zu leugnen, dass etwas geschehen war. Etwas, nur was? Er war nicht tot. Er konnte nicht tot sein - oder untot oder was auch immer. Immerhin fühlte er sich nicht anders als sonst. Er war kein Schatten, bestimmt nicht.
Mattim stolperte vorwärts. Die bleierne Müdigkeit war endlich aus seinen Beinen gewichen, das Entsetzen ließ ihn vorwärtstaumeln, der dringende Wunsch, nach Hause zu kommen und sich trösten zu lassen, sich zu vergewissern, dass alles gut war.
Es musste längst wieder Abend sein. Hatte er einen ganzen Tag geschlafen oder gar zwei? Sicher suchten sie ihn noch immer. Vielleicht riefen sie bereits nach ihm. Der Prinz horchte in den Wald hinein, aber da waren nur die üblichen Geräusche seiner Bewohner: Vögel, die in den Zweigen hüpften und einander ihre Anwesenheit kundtaten, Mäuse, die in den Blättern raschelten. Dazu leise, kaum hörbare Schritte über den weichen Waldboden.
»Mattim?«
Er drehte sich um. Zwischen den Bäumen war Mirita aufgetaucht. Die Spitze eines Pfeils zeigte genau auf ihn, aber er sah, wie ihre Hände zitterten. Nie war sie ihm schöner vorgekommen. Das ährengelbe Haar floss ihr über die Schultern, ihre blauen Augen schwammen vor Tränen.
»Warum zielst du auf mich? Hör auf!«, rügte er sie scharf. »Und überhaupt, wieso bist du allein im Wald? Bist
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