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Magyria 02 - Die Seele des Schattens

Titel: Magyria 02 - Die Seele des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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wenn sie ein Boot nahmen und über den Fluss ruderten? Hanna konnte es schaffen. Wenn er genug Blut getrunken hatte, konnte ihn das Boot vielleicht sogar eine Weile schützen. Aber nicht die ganze Strecke bis ans andere Ufer.
    Wenn, wenn … Seine Gedanken waren wie ein wirbelnder Strudel, der ihn immer weiter hinunterriss, in eine Tiefe, von der er nichts gewusst hatte.
    »Vor langer Zeit, als Magyria noch voller Zauber war, das Land der Magie … pflegten die Menschen hin und wieder die Grenzen von Traum und Wirklichkeit zu überschreiten. Sie setzten ihren Fuß in jenes andere Land, das nur einen Lidschlag von unserem entfernt ist, und besuchten dort die Schläfer. Sie kamen zu ihnen als Wölfe, suchten sie in ihren Träumen heim und sangen sie in den Schlaf …«
    Dort stand die Königin mit einem Becher in der Hand. »Für dein Mädchen«, sagte sie. Ihre Augen blickten so liebevoll und gütig und traurig, als hätte sie die halbe Nacht geweint.
    »Die Frau soll es holen«, befahl eine Wächterin mit scharfer Stimme.
    »Geh«, flüsterte Mattim.
    Hanna stand auf. Die Kette schleifte über den Boden, als sie sich dem Gitter näherte. Weit kam sie nicht; sie streckte den Arm vor, und die Königin reichte ihr den Becher durch die Stäbe. »Danke.«
    »Ich hatte gedacht, vielleicht … Um den König gnädig zu stimmen, hättest du ihm nicht vorführen sollen, was er am meisten verabscheut, Mattim. Musstest du dich wirklich auf diese Weise von ihm verabschieden?«
    Dass sie ihn bei seinem Namen nannte, ohne es zu merken, verstärkte den Schmerz nur noch.
    Er blickte zu ihr hinüber, ohne sich von der Stelle zu rühren.
    »Schau mich nicht so an«, bat sie. »So muss es nun heute zu Ende gehen, wie für alle meine Kinder.«
    »Deine Kinder leben«, brachte er heraus, »zumindest diejenigen, die ihr noch nicht getötet habt.«
    »Ich bin gekommen, um dich ins Bett zu bringen«, sagte Elira. »Eine Geschichte noch. Ich konnte sie dir nie zu Ende erzählen. Mach die Augen zu. Stell dir vor, du liegst in deinem Zimmer, in deinem Bett. Draußen fällt die Nacht über die Stadt wie ein dunkles Tuch. Ich sitze an deiner Bettkante, und du hörst meine Stimme. Sonst nichts. An diesem Abend schweigen die Wölfe. Es ist ganz still da draußen.«
    Mattim schloss die Augen. Hanna lehnte an der Wand und nippte an dem Becher, langsam, als enthielte er nicht bloß Wasser, sondern wäre der köstlichste Trunk der Welt. Er hätte ihr sagen können, dass der letzte Schluck der beste sein würde, süß und stark wie Wein. Und dass die letzte Geschichte die beste sein würde, jedes Wort eine Verheißung und ein Gesang. Die Stimme seiner Mutter lullte ihn ein, goldene Tropfen aus Licht, die über ihn fielen wie sanfter Regen.
    Er kannte die Geschichte. Atschorek hatte sie ihm bereits erzählt, aber aus dem Mund seiner Mutter klang sie anders. Es schien richtig, die Wölfe in den Wald zu verbannen, die Bedrohung von den anderen Kindern, den echten, den geliebten, fernzuhalten. Sie mussten vertrieben werden, die reißenden Bestien, die Traumfresser, die heulenden Gestalten der Finsternis.
    Schlief er, oder wachte er? Er lag in seinem Bett. Wenn er sich nur nicht rührte, wenn er die Augen nur nicht öffnete, lag er wieder in seinem vertrauten Zimmer. Aber seine Kindheit, seine Jugendzeit kamen ihm vor wie geraubtes Gut, denn er war einer der anderen, einer der Wölfe. Sie hätten ihn von Geburt an aussetzen, ihn aus der Stadt jagen sollen. Er hatte nichts verloren in Akink, bei der Familie des Lichts.
    »Und dann«, erzählte die Königin des Lichts, »geschah es eines Nachts, dass wieder ein Wolf in jenes andere Land geriet, das nur einen Lidschlag von unserem entfernt ist. Dort fand er ein Mädchen, schöner als der Morgen, ein Mädchen voller Licht, das nicht vor ihm erschrak. Traurig wandte er sich ab, denn er konnte sein Fell nicht abwerfen. Da rief das Mädchen den Wolf zu sich. Sie streckte die Hände nach ihm aus und hielt ihn fest. Er biss sie nicht in ihre weißen, bloßen Arme, sondern hielt still, obwohl sie alles war, wonach ihn verlangte. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Stirn und sagte: Nimm teil an meiner Seele. Da erhielt der Wolf einen Teil ihrer Seele und wurde ein Mensch. Und so, Mattim, endet diese Geschichte. Gut, wie alle Märchen. Gute Nacht, mein Junge. Schlafe in Frieden.«
    Er öffnete die Lider und sah, wie sie sich abwandte, das helle Gesicht nass von ihren Tränen.
    »Das war’s?«, schrie er. »Eine

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