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Magyria 02 - Die Seele des Schattens

Titel: Magyria 02 - Die Seele des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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richtig.
    Der Alte schleppte sich die Stufen hoch und dachte nach. Seine Gedanken waren träge, so wie seine Gelenke und Muskeln; doch genauso hartnäckig, wie er sich durch die Gänge arbeitete, drehten sie sich durch seinen Geist. Immer wieder. Langsam, aber mit der Stetigkeit eines Mühlrades.
    Er kannte das Gesicht des schwarzhaarigen Mannes. Er wusste nur nicht woher. Bestimmt hatte er jeden Soldaten in dieser Stadt und erst recht hier in der Burg schon hundert Mal gesehen. Kein Grund, sich zu wundern. Weder über bekannte Gesichter noch über solche, die ihm fremd schienen, die er vergessen hatte. Einmal hatte er seine eigene Enkeltochter nicht erkannt – oder war es seine Urenkelin gewesen? –, und ein anderes Mal, als ihn eine seiner Töchter besuchen wollte, hatte er getan, als würde er schlafen, weil ihm nicht eingefallen war, wie sie hieß.
    Warum hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte? Ein sehr scharfes, klares Gefühl, so hell wie eine Laterne, die ihn durch die Dämmerung hindurch anstrahlte.
    Mit diesem Gesicht war etwas nicht in Ordnung. Ganz deutlich hatte er es vor sich. Schwarze Haare. Ein Mann, jung, vielleicht Mitte zwanzig. Narben im Gesicht.
    War es vielleicht die Narbe, die tiefe Rille auf seiner Wange?
    Alle in Akink waren daran gewöhnt, nach Narben Ausschau zu halten, nach dem sichtbaren Beweis eines Wolfsbisses. Jeder von ihnen begutachtete seinen Allernächsten argwöhnisch, sobald er eine Schramme hatte oder einen aufgekratzten Insektenstich.
    Vielleicht war es also die Narbe, die ihn beunruhigte. Obwohl sie nicht nach einer der Wunden aussah, die spitze Zähne hinterließen.
    Etwas war mit diesem Gesicht. Etwas war falsch … Woher kannte er den Mann? Von früher? Aber der Soldat war zu jung gewesen, um ihn von früher zu kennen. Groß und schlank, ein Gesicht, wie es die Mädchen liebten. Die mutigen Mädchen. Die braven würden davon träumen und es nicht zugeben.
    Zweifellos hatte er sich schon einmal Gedanken gemacht über dieses Gesicht, wie sollte er sonst darauf kommen? Aber die Narbe störte, die Narbe hinderte ihn daran, sich zu erinnern. Kein Biss, nein. Eher als hätte ein Wolf ihm die Krallen über die Wangen gezogen.
    Das konnte ja durchaus sein. Die Wächter kamen nicht selten mit den Wölfen in Berührung. Vielleicht war die Narbe, die ihn so störte, ein Beweis für ungewöhnliche Tapferkeit. Ein Jäger im Wald, auf einem grauen Pferd … Warum dachte er an einen Jäger? Im Wald ging niemand mehr auf die Jagd, schon lange nicht mehr. Ein Jäger. Leise, geschmeidige Schritte.
    Der alte Mann konzentrierte sich auf den Aufstieg. Die Treppe führte endlos in die Höhe, zu steil, viel zu viele Stufen. So alt zu sein! Das Alter spielte ihm Streiche. Gaukelte ihm vor, sich zu erinnern. Senkte einen Schleier vor seine Augen, wenn man von ihm erwartete, jemanden zu kennen. Er besaß zu viele Enkel, mehr, als er sich merken konnte. Vielleicht war der junge Soldat einer seiner Verwandten gewesen? Aber hätte er dann nicht gegrüßt? Oder vermieden sie es mittlerweile, ihn zu grüßen, weil sie sich vor der Frage in seinem Blick fürchteten: Wer bist denn du?
    Er tastete sich empor. Je mehr er nachdachte, umso verwirrter fühlte er sich. Besser war es, nicht zu viel zu grübeln. Sich nicht den Kopf zu zerbrechen, wenn die Erinnerungen nicht sofort gehorchten. Sie würden schon auftauchen. Ganz sicher.
    Mehrmals hielt er inne, um zu Atem zu kommen. Dann endlich seine kleine Stube. Ihm war so kalt. Er ließ sich auf sein Bett fallen und wickelte sich in die warme Decke.
    Die Bilder!
    Der Gedanke schoss wie ein Pfeil durch seinen Kopf.
    Die Bilder! Schau sie dir an. Dort ist die Antwort.
    Er drehte sich um, wandte allen Sorgen den Rücken zu, versuchte einzuschlafen. Aber die Frage ließ ihn nicht los.
    Die Bilder. Du musst dir die Bilder ansehen!
    Er wälzte sich in seinem Bett, der Schlaf wollte nicht kommen.
    Mühsam setzte er sich auf.
    Es hatte keinen Zweck. Bevor er nicht Gewissheit hatte, konnte er nicht einschlafen.
    Der Alte stieg wieder aus dem Bett, fischte im Dunkeln nach seinen Schuhen, schlurfte hinaus auf den Gang. An der Treppe standen zwei Wächter, der eine schüttelte besorgt den Kopf.
    »Na, schon wieder unterwegs? Kannst wohl nicht schlafen, Alterchen?«
    »Die Bilder«, murmelte er, »ich muss mir die Bilder ansehen. Es stimmt nicht. Die Narbe. Mit der stimmt was nicht.«
    Der Wächter tippte sich an die Stirn, als der Alte vorüber war. »Mit dem wird

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