Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Königin. Sie hatte sich einen dunklen Schal um die Schultern geschlungen, ihr Gesicht war bleich und müde.
»Kannst du nicht schlafen, alter Mann?«, fragte sie und versuchte zu lächeln.
Der Wächter wandte den Kopf ab, denn ihr Schmerz griff auf alle über, erinnerte sie alle daran, was sie am Morgen vernichten würden: die letzte Hoffnung des Lichts.
»Der Prinz ist hier«, sagte der Alte, glücklich darüber, dass ihm jetzt, da die Königin da war, wieder alles einfiel. In ihrer Gegenwart wurde er ruhig, das Zittern ließ nach. Ihre Hand auf seiner gab ihm Kraft. Es würde gut werden. Alles.
»Ich weiß.« Elira nickte besänftigend. »Aber er ist nicht mehr der Prinz. Was wir jetzt noch verlieren, ist – nichts mehr. Alles, was wir verlieren konnten, haben wir schon längst verloren. Schon längst, alter Mann.«
»Das Bild«, sagte er, denn auch das war wichtig. »Das letzte Bild. Er ist es. Nur die Narbe, sie ist neu.«
»Ja«, flüsterte die Königin. »Es war das letzte Bild. Nun gibt es keine Bilder mehr, die ich dir geben muss. Es wird nie wieder ein Bild geben.«
»Nicht das letzte«, protestierte der Alte. Der Zorn schärfte sein Gehör. »Das erste. Das letzte, wenn man sie ansieht. Aber es war das erste der Bilder, das allererste.«
»Das erste?«, fragte die Königin. »Wie, das erste?«
»Das erste, das Ihr damals meinem Vater gegeben habt«, sagte er stolz. »Ich hüte die Bilder, so wie mein Vater vor mir. Wie Ihr befohlen habt. Die Galerie der verlorenen Kinder.«
»Was ist mit dem ersten Bild?«, fragte die Königin, diesmal alarmiert. »Was willst du mir damit sagen?«
»Der dunkle Prinz«, sagte er. Er wusste, dass sie es nicht gern hörte, trotzdem fügte er hinzu: »Kunun.« Es musste so deutlich sein, damit sie es endlich verstand.
»Kunun?«, wiederholte Elira geduldig. »Ja, Kunun ist auf dem ersten Bild. Es ist das letzte in der Reihe. Ich weiß, was du meinst.«
»Ich habe ihn gesehen.«
»Wo, auf dem Bild? Bist du hingegangen und hast dir die Bilder angesehen?«
»Er ist hier«, sagte der Alte. »Ich habe ihn gesehen. Auf der Treppe.«
Die Königin wandte sich um und begegnete dem Blick des Wächters. Ratlos hob er die Schultern.
»Ganz langsam, damit ich dich recht verstehe. Prinz Kunun.« Der Name ging schwer über ihre Lippen. »Prinz Kunun, der erste Prinz – war hier? Auf der Treppe? Wann?«
»Heute Nacht«, sagte er. »Heute. Heute bin ich ihm begegnet.«
»Vielleicht phantasiert er«, gab der Wächter zu bedenken.
Die Königin biss sich auf die Lippen. Dann hob sie entschlossen das Kinn.
»Gib Alarm! Weckt das Schloss! Weckt die ganze Stadt! Schnell! Beim Licht, schnell!«
»Was sollen wir melden?«, fragte der Wächter erschrocken. »Noch einen Schatten?«
Sie zögerte nur ganz kurz. »Den König der Schatten«, sagte sie. »Den Jäger. Macht Licht, überall! Lasst die Hörner klingen! Sofort!« Sie riss ihm das Horn vom Gürtel und blies hinein. Der klagende Ruf hallte von den Wänden wider. Überall wurden Türen aufgerissen, fielen andere Hörner in den aufwühlenden Gesang ein. Feinde! , schrien die Hörner. Feinde! Gefahr! Schatten! Feinde! Schatten! Gefahr!
» Zu den Waffen!«, brüllte der Wächter.
Die Königin hob ihre Röcke an und rannte los. »Ich hole das Bild«, rief sie. »Ich zeige euch sein Gesicht! Wo ist der König? Weckt die Stadt! Weckt alle!« Sie verlor einen Schuh, kehrte jedoch nicht um. Mit wehendem Haar rannte sie die Treppe hinunter.
Der König erschien im weißen Gewand, das Gesicht dunkler als je zuvor.
»Ist es wahr?«, fragte er. »Noch einer? Sind sie wirklich schon über uns?«
Das ganze Schloss war in Aufruhr, da stürzte auch schon die Königin herbei, in den Händen das große Porträt, Kununs Bild.
Sie hielt es ihrem Gemahl entgegen, als wollte sie es möglichst schnell loswerden, als könnte die bloße Berührung sie mit einer Krankheit anstecken, für die es kein Heilmittel gab. Mit einer Miene, die nichts verriet, starrte Farank auf das unschuldig lächelnde Gesicht seines Erstgeborenen, aber er nahm ihr das Bild nicht ab. Schließlich reichte Elira es an einen der Wächter weiter. »Sucht diesen Mann. Zeigt allen das Porträt!«
»Was ist mit den Schatten im Verlies?«, fragte jemand.
»Verbrennt sie«, befahl der König. »Sofort!« Er begegnete Eliras Blick. »Ich liebe dich«, sagte er leise.
»Ich weiß.«
Sie standen im Gang, während die Wächter an ihnen vorbeiliefen, während die Hörner
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