Magyria 02 - Die Seele des Schattens
es auch nicht mehr lange dauern«, sagte er zu seinem Kollegen. Gemeinsam bewachten sie die Stille.
Mit zittrigen Fingern schloss der Greis den Raum auf und betrat die geheime Galerie. Er hielt die Lampe so hoch er konnte. Der Schein fiel auf die Porträts, auf die verlorenen Kinder des Lichts. Mattim, der goldene Prinz, der süßeste von allen. Wilia, die liebliche Prinzessin mit den Locken und dem herausfordernden Blick. Wilder, spitzbübisch unter dem rotblonden Schopf, der hatte es faustdick hinter den Ohren. Die kleine Atschorek als blasses Kind mit langen Zöpfen, in ihrem Gesicht war noch nicht zu sehen, was sie einmal sein würde. Bela, der Sanfte, nicht so hübsch wie die anderen, nicht lächelnd, aber einer, auf den man sich verlassen konnte, ein Antlitz, von dem Wärme ausging. Runia, schmalgesichtig und ernst, verschlossen und dunkel, und doch lag hinter ihrem scheuen Blick ein Strahlen, das einen fast umwarf.
Aber keins dieser Bilder hatte ihn gerufen. Er hob die Lampe an das letzte Porträt. Der erste Prinz, der ins Dunkel gegangen war, der Erstgeborene, der lachende Beginn des Untergangs. Das Gesicht eines jungen Mannes, der allen Grund zum Lächeln hatte, stolz und fröhlich und unbefangen. In einer Zeit, in der die Wölfe irgendwo weit weg im Süden ihr Unwesen trieben und man von Schatten nur ferne Gerüchte hörte, die Akink nichts anzugehen schienen. Eine Zeit des Glücks. Glücklich sah er aus, ein Junge um die sechzehn, siebzehn, dem die Welt zu Füßen lag.
»Prinz Kunun«, flüsterte der Alte.
Es gab keinen Zweifel. Er hatte ihn heute gesehen. Etwas älter, aber nicht viel. Nun wusste er auch, warum ihn die Narbe gestört hatte, denn auf dem alten Bild, dessen Farben ihre Leuchtkraft nicht verloren hatten, war das Gesicht makellos. Kunun, der Jäger. Das hatte man ihm erzählt, jetzt wusste er es wieder. Der Jäger auf dem grauen Pferd, den die Schatten holten und der die Jagd auf Akink eröffnet hatte, wilder Krieger des Dunkels.
Kunun war hier. In der Burg. Es konnte nicht sein – war das alles nicht hundert Jahre her, viele Jahre, bevor der Alte selbst überhaupt geboren war? War er nicht schon als Kind damit aufgewachsen, dass von diesem Prinzen Geschichten erzählt wurden, eine phantastischer als die andere?
Kunun, der Verlorene, dessen Namen der König totgeschwiegen und verboten hatte.
Der Greis begann noch stärker zu zittern, als ihm bewusst wurde, was das bedeutete. Der Feind, hier, mitten unter ihnen! Er war zu alt, um sich noch vor dem Tod zu fürchten, aber es gab ein schlimmeres Schicksal als den Tod, und seine Knie hätten fast unter ihm nachgegeben, als er daran dachte, wie nah er der schlimmsten Kreatur gewesen war, die es in ganz Magyria gab, dem König der Schatten.
Die Lampe fiel ihm aus der Hand. Im Dunkeln hastete er zur Tür, riss sie auf, stolperte den Gang hinunter. Seine eigene Langsamkeit, der Körper, der sich weigerte, ihm zu gehorchen! Er fluchte, seine dünne Stimme verwandelte seine Entsetzensschreie in ein Wimmern. Dann fing ihn ein Wächter auf, und der alte Mann schrie auf vor Furcht. Aber das runde Gesicht gehörte einem Soldaten, der ihm vertraut war.
»Er ist hier!«, jammerte der Alte. »Schatten! Schatten!«
»Das wissen wir«, antwortete der Wächter freundlich. »Mach dir keine Sorgen, er sitzt sicher im Verlies.«
Der alte Diener hatte nicht genug Luft in den Lungen, um zusammenhängend zu sprechen. »Der König – ich muss – sofort – König – Schatten!«
»Der König verhört ihn gerade«, verriet der Wächter. »Vertrau auf König Farank. Geh zu Bett, Großväterchen.« Er klopfte ihm auf die Schulter und führte ihn wieder zur Treppe. »Geh ins Bett. Sonst verpasst du morgen das große Feuer.«
Der Greis schleppte sich die Stufen hinauf. Aber er war nicht zufrieden. Wieder war da dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Doch wenn sie den Feind gerade verhörten, musste es gut sein. Er musste vertrauen, was blieb ihm sonst anderes übrig? Wie hätte er kämpfen können, alt, wie er war?
Die beiden Posten oben an der Treppe unterbrachen ihr Getuschel nicht, als der Diener vorüberwankte. Der Flur, sein Zimmer. Er legte sich wieder ins Bett. Er hatte getan, was er konnte.
Kunun. Der dunkle Prinz. Vor diesem Bild hatte er sich immer ein wenig gefürchtet. Der Jäger. Wenn man wusste, was er jagte, konnte einem schon anders werden. Mit seinen Wölfen machte er nun Jagd auf Menschen …
Er nickte ein, Träume zuckten durch seinen
Weitere Kostenlose Bücher