Magyria 02 - Die Seele des Schattens
hätte.
»Woher weißt du es?«, fragte sie. »Hat er es dir gesagt?«
»Wenn ich verrückt bin«, sagte Réka, irgendwie zugleich erschrocken und zufrieden, »dann bist du es wenigstens auch.«
»Wir sind nicht verrückt«, meinte Hanna leise.
»Nein?« Réka lachte plötzlich schrill auf. »Ich war in einem Wald. Dann sollte ich in das Boot steigen. Mit dem Wolf. Ich bin ins Wasser gefallen. Ich wäre fast ertrunken. Es war so kalt …« Ihre Stimme begann zu zittern. »So kalt. Atschorek ist mit einem Pfeil in der Brust herumgelaufen. Ich glaube, sie ist seine Geliebte. Er hat sie mir als seine Schwester vorgestellt, aber ich glaube auch nicht mehr alles, was man mir sagt. Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte …«
»Du solltest was tun?«, fragte Hanna und horchte auf. »Sie wollten erst dich über den Fluss schicken, mit Wilder? Deshalb warst du weg?«
Ihre Augen begegneten sich über den Tisch hinweg.
»Was?«, fragte Réka entgeistert. »Du hast es gemacht? Kunun hat dich auch gefragt?«
»Ja«, sagte Hanna. »Ich habe es gemacht.«
»Krass«, murmelte Réka.
Sie schwiegen eine Weile.
»Atschorek ist übrigens wirklich seine Schwester.«
Réka schüttelte heftig den Kopf. »Ich will nicht mehr über ihn reden. Es ist vorbei, endgültig. Ein für alle Mal.«
Wie recht sie damit hatte. Hanna fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, und ihre Finger blieben wieder an den kleinen, erhabenen Wunden hängen. Nein, es gab keinen richtigen Zeitpunkt für den Überbringer von schlechten Nachrichten.
»Ich glaube, Kunun ist tot«, sagte sie leise.
»Das ist mir egal«, sagte Réka mit dieser neuen, erwachsenen Stimme, die so schlecht zu ihr passte. »Es interessiert mich nicht.«
Hanna legte ihre Hand auf die kleine Faust des Mädchens. »Es tut mir so leid für dich.«
»Vielleicht wäre ich doch lieber verrückt«, flüsterte Réka, »statt an all das zu glauben.«
ZWEIUNDZWANZIG
Akink, Magyria
Kunun schmeckte sein eigenes Blut auf der Zunge. Es war nicht das leichte, würzige Aroma der Akinker, nur einen Sprung vom Wolf entfernt, nicht das starke, pulsierende Leben der Menschen jener anderen Welt hinter den Türen, süß und schwer und berauschend.
Bitter schmeckte es, nach Salz und Metall und Dunkelheit; es schmeckte nach dem Gefühl, in einen Schatten hineinzutauchen, nach schwarzer Unwirklichkeit. Der Schmerz, den er im ersten Moment gar nicht gespürt hatte, schlich auf leisen Sohlen heran, eine gefräßige Bestie, die Zähne gefletscht. Entsetzen überrollte ihn, presste ihn noch fester, noch untrennbarer an die grüne Tür. In seinem Rücken spürte er die Schnitzereien, das Muster der Blätter und Vögel, irgendwo zwischen seinen Schulterblättern drückte sich der Löwenkopf an ihn, mit dem Ring im Maul, aufdringlich zärtlich.
Nachdem Hanna und Mattim durch den Schatten verschwunden waren, hatte eine Lanze ihn mit voller Wucht durchbohrt. Die Laterne war ihm aus der Hand gefallen und auf den Steinen zerschellt. Nun wurde er gegen die hölzerne Tür gedrückt, der lange Stab ragte aus seinem Bauch. Festgenagelt ans Holz, konnte er nicht vor und zurück.
»Wir haben ihn«, sagte der Wächter mit kaltem Triumph.
Kunun widersprach ihm nicht. Blut sickerte langsam durch die Verästelungen seiner Lungen. Instinktiv schnappte er nach Luft, aber es war der Durst, der ihn zwang, den Mund zu öffnen. Schwarzes Blut rann ihm übers Kinn, und er wunderte sich darüber, wie viel es war. Er hatte nicht gedacht, dass Vampire so bluten konnten.
Der Schmerz war inzwischen angekommen und begann zu strahlen wie ein in seine Eingeweide eingepflanzter Stern.
»Was machen wir mit ihm?« Die Stimmen schienen von weither zu kommen. Durch die Wimpern seiner halb geschlossenen Augen sah Kunun dunkle Gestalten, als wimmelte es in der ganzen Straße von Schatten. »Habt ihr Feuer?« – »Seid ihr verrückt? Wollt ihr das ganze Haus abfackeln?« Irgendwo über ihm öffnete sich ein Fenster, und eine Frau schrie wirres, unzusammenhängendes Zeug. Er verstand nur Bruchstücke – »… Keller … Mädchen … keine Spur von ihnen …«
Mattim hatte es geschafft. Das war gut. Ein Lächeln wanderte durch sein Gesicht, unter der Oberfläche, ohne durch die Haut nach oben ins Freie zu gelangen. Kleiner Bruder bringt den Sieg. Also war nichts verloren, war alles noch möglich. Nur nicht gerade jetzt und hier, in der Tiefe, in der er sich befand. Wo der Strudel finsteren Schmerzes sich in ihm drehte, um eine Mitte,
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