Magyria 02 - Die Seele des Schattens
Maul. Und dann diese Kreatur hier, die nicht sterben kann – willst du nicht lieber echte Tränen vergießen um einen Toten, der wirklich tot ist? Niemand in Akink sollte um eine Bestie trauern, die mordlustig durch die Nacht irrt.«
»Das kann man nun wirklich nicht von mir behaupten«, mischte Kunun sich ein. »Mordlustig war ich nie. Wolfslustig schon eher. Wahnsinnig lustig ist es, Majestät, wenn aus Unsinn plappernden alten Männern graumähnige Wölfe werden.«
Die Königin hatte die Füße in die Erde gestemmt und rührte sich nicht von der Stelle.
»Tut es sehr weh?«, fragte sie.
»Er ist tot, verdammt!«, schrie der König. »Nichts tut ihm mehr weh!«
»Wenn es Euch beruhigt, Majestät, die Toten leiden nicht mehr, nachdem man sie zerhackt und verbrannt hat. Sollte das nicht Euer Gewissen beruhigen?« Kunun begegnete dem angstvollen Blick seiner Mutter mit wilden schwarzen Augen, in denen der Schmerz seine Kreise zog.
»Es reicht, Elira«, warnte Farank.
»Habt Ihr für mich auch eine Geschichte vor dem Schlafengehen?«
Die Königin schluchzte auf; es war ein Laut, wie der König ihn noch nie von ihr gehört hatte.
»Es reicht«, wiederholte er, »wir waren uns immer einig, was wir mit tollwütigen Wölfen tun.«
»Er ist der König der Schatten. So ist es doch, oder? Du bist ihr Anführer?«
»Es wäre hilfreich, wenn Ihr Euch dazu durchringen könntet, meinen Namen auszusprechen, edle Mutter«, sagte Kunun. »Nur damit es keine Missverständnisse gibt, wen Ihr meint. Der alte Mann an Eurer Seite kann jederzeit der König der Schatten werden, wenn er nur will.«
»Kunun.« Auf einmal klang ihre Stimme erstaunlich fest. »Du bist ihr Anführer? Der König der Schatten?«
»Man nennt mich ›den Jäger‹«, antwortete er und lächelte. Es war das Lächeln eines Mannes, der den wilden Stier verfolgt und den Speer wirft und sich gleich darauf auf den Hörnern seiner Beute wiederfindet – das Lächeln des Jägers, der weiß, dass er sterben muss, aber nicht allein.
»Wir wären töricht, ihn zu vernichten«, sagte Elira mit Autorität. Sie sah nun wieder wie eine Königin aus, nicht wie eine verzweifelte Mutter. »Er ist das Einzige, was zwischen uns und den Schatten steht. Sie werden kommen, immer mehr und mehr, das weißt du so gut wie ich.«
»Eben das fürchte ich«, sagte Farank. »Dass sie aus allen Löchern kriechen, dass sie uns überschwemmen werden mit ihrem giftigen Biss. Wir müssen versuchen, jeden Einzelnen von ihnen zu vernichten. Wir haben keine Wahl.«
»Das vielleicht nicht, aber dafür eine Geisel«, hielt sie dagegen. »Wir hatten das Mädchen, und Mattim ist gekommen, um sie zu befreien. Wir hatten die beiden, und nun ist Kunun gekommen. Die Schatten helfen einander, Farank. Sie sind nicht völlig verdorben, sie stehen füreinander ein. Dass wir ihren König in unserer Gewalt haben, ist vielleicht unsere letzte Hoffnung. Natürlich werden sie versuchen, ihn zurückzuholen, aber wir werden dafür sorgen, dass ihnen das nicht gelingt. Sie werden mit uns verhandeln müssen.«
»Ich verhandele nicht mit der dunklen Seite«, beharrte der König düster. »Und hör endlich auf, diese Namen auszusprechen.«
»Er ist unser einziges Pfand.« Auch die Königin gab nicht so schnell nach. »Unser einziges.«
»Wie stellst du dir das vor? Die Schatten schleichen heran, du rufst ihnen zu: Halt, wir haben euren König, zieht ab! Und dann ziehen sie ab? Und als Nächstes? Willst du ihn freilassen?« Er fasste sie an den Schultern und schüttelte ernst den Kopf.
»Wir haben es nie versucht«, meinte sie. »Einen Vertrag zu schließen. In all den Jahren nicht. Das war ein Fehler. Denn dann wüssten wir jetzt, ob sie sich an Verträge halten.«
»Du kannst sie nicht behandeln, als wären sie … Menschen wie wir.«
»Sie sind einander gefolgt«, erinnerte sie ihn ein zweites Mal. »Dem Mädchen der Schatten und dem Schatten der Anführer. Das ist mehr als der Instinkt von Wölfen. Das sind Zuneigung und Ehre. Wie viel werden sie für ihren König geben? Wir finden es heraus und retten Akink.«
Mit halb geschlossenen Augen hörte Kunun zu, wie die Königin um sein Leben kämpfte. Der Schmerz war wie ein schwerer Stein, den jemand in einen Teich geworfen hatte. Er sank durch seinen Körper hindurch und zwang ihm eine Bewegung auf, ein Muster, eine Reaktion. Doch es war, als wäre er inzwischen auf dem Grund angelangt. Langsam erinnerte sich der geschundene Körper an seine
Weitere Kostenlose Bücher