Magyria 02 - Die Seele des Schattens
war bewusst, dass die Schatten von überall her zu ihnen herübersahen; aus jedem Stockwerk lugten sie in den Innenhof, durch alle Fenster, auch wenn sie taten, als tanzten sie. Es war wie damals, als er hier vor aller Augen mit Atschorek gekämpft und Kunun als seinen König anerkannt hatte.
»Verräter!«, zischte Atschorek.
Kunun sagte kein Wort. Er schien auf etwas zu warten, aber Mattim erwiderte das Schweigen. Er senkte weder die Lider noch den Kopf, und er beugte auch nicht die Knie. Nie wieder würde er vor dem Herrn der Schatten niederfallen.
»Warum hast du mir das Leben gerettet?«, fragte Kunun.
»Ich würde jeden retten, der neben mir untergeht.« Mattim hielt ihn aus, diesen schwarzen, sengenden Blick. Falls er sich je heimlich gewünscht hatte, Kununs Anerkennung zu gewinnen, so war es ihm jetzt völlig gleich, was sein Bruder über ihn dachte.
»Ach. Und ich dachte, ich wäre dir vielleicht sogar ein wenig ans Herz gewachsen.« Kununs Lächeln glich einem Zähnefletschen.
»Ich werde mich um jeden bemühen, der hilflos ist«, sprach Mattim weiter, obwohl Atschorek ihn mit warnendem Kopfschütteln davon abzuhalten versuchte. »Und«, er setzte noch eins drauf, »genau das warst du in jenem Moment.«
Er rechnete damit, dass Kunun ihn für diese schmerzhafte Wahrheit noch einmal schlagen würde, doch die Hand, die sich schon erhoben hatte, legte sich nur mit festem Druck auf seine Schulter.
»Deine Motive sind … interessant«, sagte Kunun verächtlich. »Wie dein Herz und dein Verstand dir immer noch vorgaukeln, dass du dem Licht dienst – und dabei dienst du mir.«
»Nein«, widersprach Mattim. »Ich diene dir nicht. Und nie wieder werde ich so tun, als ob. Die Zeit der Täuschung ist vorbei.«
»Raus«, befahl Kunun, »raus aus meinem Haus.« In seiner heiseren Stimme zitterte die Wut, die er aus seinem Gesicht mühelos heraushalten konnte.
»Er kommt zu mir«, sagte Atschorek betont munter. »Wir sind hier, um seine Sachen zu holen.«
Der Anführer der Schatten richtete seine Wut auf sie. »Das verbiete ich.«
»Oh nein.« Auch aus ihren Augen funkelte nun der Zorn. »Das kannst du mir nicht verbieten. Mattim kommt zu mir. Ich habe nicht vor, ihn zu suchen, wenn wir ihn brauchen. Und das werden wir noch. Kleiner Bruder bringt den Sieg – du glaubst doch daran, an diese Prophezeiung. Er hat dich gerettet, Kunun. Wer weiß, was es noch alles zu retten gibt. Diesen Vorteil werde ich nicht aufgeben.«
Sie stritten um ihn wie um ein ungeliebtes Haustier, bei dem sie sich nicht einig waren, ob sie es aussetzen sollten oder ob es doch noch zu etwas nütze war.
»Ich will nicht bei dir wohnen«, knurrte Mattim.
»Aber du wirst es«, beharrte Atschorek. »Kunun?«
»Wenn du den kleinen Verräter in deiner Nähe haben willst, bitte.« Kununs Blick streifte Mattim verächtlich. »Ich will dich nicht mehr sehen. Wag es nicht, mir unter die Augen zu treten. Halte dich fern, bis ich dich rufe.«
Ich werde nicht kommen. Die Worte lagen ihm schon auf der Zunge, aber er sprach sie nicht aus. Stattdessen drehte er sich brüsk um und marschierte aus dem Hof. Auf dem Weg nach draußen holte ihn Atschorek ein.
»Hol deine Sachen«, befahl sie. »Na los. Jetzt gleich. Er meint es ernst.«
Mattim zögerte einen Moment. Er wollte nicht in ihrem Haus leben, aber er hatte es satt, sich bei den Szigethys zu verstecken. Als Schatten, dem die Kälte nichts anhaben konnte, hätte er auch auf der Straße leben können, aber der Gedanke, wie ein Bettler keine Bleibe zu haben, sagte ihm überhaupt nicht zu.
»Mattim, ich warte«, sagte Atschorek und lächelte, als könnte sie seine Gedanken lesen. » Prinz Mattim. Du willst doch nicht im Ernst in der Metró hausen, oder?«
Frustriert verzog er das Gesicht, dann wandte er sich um und eilte mit raschen Schritten die Treppe hoch, zu seiner Wohnung im fünften Stock. Es gab nicht viel, was er mitnehmen konnte. Ein paar Kleidungsstücke, sein Lehrbuch. Es überraschte ihn, auf dem Wohnzimmertisch auch das Schwert vorzufinden, mit dem er gegen Atschorek gekämpft hatte. Was erwarteten sie – dass er es irgendwann im Kampf gegen Akink einsetzte? Vorsichtshalber hüllte er es in eine Decke, um damit draußen auf der Straße nicht aufzufallen. Als er aus der Wohnung trat, bemerkte er ein Pärchen auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs. Ein junger Vampir hielt Valentina im Arm und trank an ihrem Hals. Mattim schaute hinunter auf die unteren Stockwerke. Im
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