Magyria 02 - Die Seele des Schattens
hätte es das Fest nie gegeben. Nur die Lampen im Innenhof brannten noch, das Haus um sie her lag still und dunkel.
Einzig sie beide waren noch hier.
»Hatten wir nicht besprochen, dass du für Mattim sterben wolltest?«, fragte Kunun. Es klang nicht bedrohlich. Auch nicht ärgerlich. Nur kalt, und ihr war, als würde die Finsternis sich um seine Stimme und um seine Worte ranken wie eine Schlingpflanze, die tief unten in der Erde wurzelte.
Sie schauderte, als er näher trat und die Hand nach ihr ausstreckte, eine Geste, schon fast so vertraut wie Mattims zärtliche Liebkosungen.
»Du wirst mir sagen, was du verlangst«, flüsterte sie und zuckte zurück, als seine Fingerspitzen ihre Wange streiften.
»Für dein Leben? Und Mattims Leben? Und Rékas? Was könnte alle diese Leben aufwiegen?«
Sie hatte nichts in der Hand. Nichts, um dem Schattenprinzen in seinem Kampf gegen das Licht zu helfen, nichts, um ihn daran zu hindern, sein dunkles Werk weiterzuführen. Arm und hilflos wie eine Bettlerin fühlte sie sich vor dem finsteren König. Aber sie wusste, dass er längst zugeschlagen hätte, wenn er nicht darauf bauen würde, dass ihm seine beiden Gegner noch irgendwie von Nutzen sein konnten. Kunun ging es immer nur um sein Ziel: Akink.
»Einen Gefallen«, sagte er bedächtig und strich die langen Strähnen ihres braunen Haares zurück. Unter dem Druck seines Daumens pochte ihr Puls.
»Was?«, flüsterte sie.
»Das werden wir noch sehen. Und wenn es so weit ist, wirst du tun, was ich von dir verlange. Ohne Widerrede. Ohne Zweifel. Ohne Fragen.«
»So etwas kann niemand versprechen.« Sie wusste nicht, woher sie den Mut nahm aufzubegehren.
»Hanna«, flüsterte Kunun, jetzt so nah vor ihr, dass sie einen vertrauten Geruch an ihm wahrnehmen konnte. Rékas Duft, ihr blumiges Shampoo. »Ich schenke dir Zeit. Zeit, um zu atmen. Um zu spüren, wie dein Herz schlägt. Um zu lieben und zu lachen und all die kleinen Dinge zu tun, die Mädchen deines Alters gerne tun. Zeit, das Einzige, was für jemanden zählt, der so sterblich und so zerbrechlich ist wie du. Einen Atemzug. Und noch einen Atemzug. Einen Tag und noch einen Tag und eine Handvoll Nächte … Das kannst du nicht ausschlagen, meine Liebe.«
Wenn man stark wäre , dachte Hanna , mutig und stark und völlig ohne Angst, wie wäre es dann? Würde ich dann Kunun ins Gesicht lachen? Könnte ich sagen: Wenn du mein Leben willst, so nimm es, ich kann es nicht ändern. Würde ich sagen: Für ein paar Tage und Nächte, für eine Handvoll Leben werde ich niemals meine Seele und mein Gewissen verkaufen? Nie, niemals, nicht einmal im Traum, unterzeichne ich einen Blankoscheck für eine Tat, die deinen finsteren Gedanken entspringt?
Aber sie war nicht einmal mutig genug, um sich so viel Mut zu wünschen. Sie fühlte nur ihre Ader unter seiner Hand pochen. Ihr Herz raste so schnell, dass sie kaum noch spürte, ob es überhaupt schlug, es stolperte von einer Ewigkeit zur nächsten. Noch nie hatte sie sich derart eingesperrt gefühlt in diesem schwitzenden, gelähmten Leib, der sich wie ein Gefängnis um ihren Wunsch nach Freiheit und Hoffnung legte.
Vor ihr schimmerten Kununs Fangzähne. Zwei Spitzen, die leuchtend weiß aus seinem Zahnfleisch ragten. Nie zuvor hatte sie so etwas gesehen, nicht einmal bei Mattim. Sie hatte nie hingeschaut, wenn er sie biss – auch beim Arzt, wenn ihr Blut abgenommen wurde oder eine Impfung anstand, machte sie immer die Augen zu.
So selbstverständlich war ihr diese Reaktion vorgekommen. Hatte sie Angst davor gehabt, wie Mattim aussah – als Vampir? Meistens war es sowieso dunkel gewesen. Er hatte hinter ihr gestanden oder seinen Kopf dazwischengeschoben. Doch nun sah sie das erste Mal die Zähne, bereit zum Zubeißen, eine Drohung, vor der sie in Schluchzen und Heulen ausbrechen wollte. Zu ihrem Erstaunen verwandelten die fürchterlichen Fänge Kunun nicht in ein schreckenerregendes Ungeheuer, in eine blutrünstige Bestie. Er war noch genauso schön wie vorher, wenn nicht noch schöner, attraktiver als jeder andere Mensch, den sie je gesehen hatte, sogar schöner als Atschorek. An Mattim konnte sie in diesem Augenblick nicht denken. Als Kunun sich weiter vorbeugte und der glatte Zahn ihre Haut streifte, war dies wie eine intime Zudringlichkeit.
»Warum ich?«, wisperte sie.
»Weil du etwas Besonderes bist.« Seine Augen schienen bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken. »Weil du die Unwägbarkeit in meinen Berechnungen bist,
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