Magyria 02 - Die Seele des Schattens
wäre?«, flüsterte sie. »Es geht immer nur um den Mann und den Wolf. Die Frau bleibt im Hintergrund. Sie wird nicht gefragt, ob sie das alles will. Ob sie den Wolf wirklich so verabscheut, ob sie ihn weniger lieben würde, wenn sie wüsste, dass er beides ist, Wolf und Mann. Erst durch dieses Mädchen, das tätig wird, wird alles gut. Es ist die Frau, die handeln muss. Die Frau, die die Trennung aufheben muss. Indem sie dem Wolf einen Teil ihrer Seele gibt.«
Attila hörte ihr nicht zu. Er war aufgesprungen und schüttete eine seiner eben gefüllten Kisten wieder auf dem Fußboden aus. »Ich hab einen Wolf«, sagte er, »und einen Ritter. Das ist der Helm, siehst du?«
Es war ein Hund, kein Wolf. Hanna sah dem Jungen beim Spielen zu, ohne sich zu rühren.
Ein Märchen. Nichts als ein Märchen. Aber sie hatte schon zu viel erlebt, um alles Märchenhafte einfach abzutun.
Wenn dies der Weg ist … Wenn ich Mattim doch noch erlösen könnte …
Sie sprang auf. »Worauf warte ich dann noch?«
ZWEIUNDDREISSIG
Budapest, Ungarn
Réka hatte nicht gesagt, wann die Wölfe Akink verlassen würden. Wenn Mattim erst in den Wäldern war, war es zu spät – wie sollte sie ihn dann jemals wiederfinden? Jetzt musste es geschehen. Jetzt musste sie nach Magyria.
Hanna beugte sich zu Attila hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Putz dir die Zähne, und geh ins Bett«, sagte sie. »Sei lieb, ja? Ich muss noch einmal weg.«
Durch die geschlossene Wohnzimmertür hörte sie Mónika weinen. Hanna nahm leise die Schlüssel vom Haken und schloss die Tür hinter sich zu.
Draußen umfing sie ein milder, windstiller Abend. Sie zögerte kurz und überlegte.
Die Pforte im Garten? Nein. Das bedeutete einen Fußmarsch durch halb Akink.
Das Haus am Baross tér, wo sie am ehesten auf Schatten stoßen würde? Von denen sie einen vielleicht dazu überreden konnte, sie mitzunehmen?
Aber sie kannte die anderen Vampire zu wenig, um ihnen ihr Anliegen anzuvertrauen. Sie würden ihr sicher gar nicht zuhören. Wenn Kunun angeordnet hatte, dass Akink für sie verboten war, würden sie ihm gehorchen und niemanden durchlassen. Atschorek? Vielleicht war sie in ihrem Haus – oder versteckte sie sich jetzt im Dunkeln, damit niemand ihre Narben bemerkte? Ihre Schönheit war dahin, aber unberechenbar war sie zweifellos immer noch. Vielleicht ließ sie sich überreden, es konnte jedoch genauso gut sein, dass sie Hanna auslachte oder, schlimmer noch, sie bei sich festhielt, damit sie auf keinen Fall zu Mattim gelangen konnte.
Blieb noch die Pforte im Turm. Ohne darüber nachzudenken, ob es einen Sinn ergab, stieg Hanna ins Auto und fuhr zur Burg hoch. Sie parkte etwas weiter abseits und marschierte zu Fuß den Hügel hinauf.
Wenn sie erst in Akink war, dann würde sie Mattim finden. Daran zweifelte sie nicht, auch wenn er sie schon lange nicht gebissen hatte. Ihre Liebe war so groß, und ihr Herz war bei ihm. Von nichts würde sie sich aufhalten lassen.
Genau hier war es gewesen, an dieser Stelle war sie mit Atschorek herausgekommen. Eine Pforte, durch die angeblich nur Schatten gehen konnten. Aber das war der Weg zu Mattim. Der unsichtbare Faden, der sie mit ihm verband, führte hindurch, sie konnte sich an ihm entlangziehen bis nach Magyria. Das Märchen ging gut aus, und sie bestand drauf, dass auch ihre Geschichte gut ausging.
Sie würde diese Pforte durchschreiten. Jetzt.
Hanna machte einen Schritt vorwärts. Ihre Umgebung veränderte sich nicht. Noch einen, immer hinein in eine Mitte, die sich nicht öffnen wollte. Für einen Beobachter musste es aussehen, als tanzte sie, als spielte sie ein Hüpfspiel, bei dem sie im Kreis herumtänzelte.
»Mattim«, flüsterte sie. »Mattim.« Sie hatte sich erinnert, obwohl das eigentlich unmöglich war. Immer wieder hatte sie sich zurückgeholt, was man ihr genommen hatte. Sie würde auch jetzt nicht davor zurückschrecken, etwas zu tun, was noch kein anderer Mensch vor ihr versucht hatte. Wenn man mit einem Teil seiner Seele jemanden retten konnte, dann war es doch ein Kinderspiel, durch eine unsichtbare Tür zu gehen!
Mattim. Das war ihr Zauberwort, die Losung, die alle Pforten öffnete.
Mattim.
Sie füllte ihren Geist mit seinem Namen.
Und ging hindurch. Dann stand sie oben im Turm, und ihr Blick fiel auf die dunkle Stadt, in der nur ein paar Lampen wie winzige Leuchtkäfer glühten.
Vorsichtig tastete sie sich die Wendeltreppe hinunter. Öffnete eine weitere Tür, diesmal eine Tür
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