Magyria 02 - Die Seele des Schattens
aus Holz, die sich mit einem kräftigen Händedruck aufstoßen ließ, und trat auf einen Gang hinaus. Vor ihr saß ein fremder Wolf, der sie mit runden gelben Augen verwundert betrachtete. Es sah nicht aus, als wenn er Wache hielte – aber was gab es in der Stadt der Schatten auch zu bewachen? In einer Burg, über die Kunun als dunkler König herrschte?
»Ist Prinz Mattim hier?«, fragte sie. »Ich bin seine Lichtprinzessin. Bring mich zu ihm.«
Der graue Wolf erhob sich, streckte sich auf eine Weise, die sie an eine Katze erinnerte, und trottete den Gang hinunter, ohne irgendwelche Einwände zu erheben. Es gab keine Fragen, keine Diskussionen. Das war ihr an den Wölfen sympathisch, sie waren viel angenehmere Zeitgenossen als die Schatten. Hanna hoffte nur, dass er sie richtig verstanden hatte. Aber sie hatte die Pforte durchschritten, ohne Hilfe – wie konnte sie jetzt noch scheitern?
Der Wolf führte sie durch Säle, in denen Fackeln an den Wänden flackernde Lichtspiele über den Boden warfen, durch Flure, in denen sie so gut wie nichts sehen konnte und nur seinem nahezu lautlosen Tapsen folgen musste. In einem Raum wanderte sie durch Hunderte oder Tausende von Kerzen, wieder in einem anderen tastete sie sich blind an der Wand entlang.
Dann traten sie auf einmal hinaus ins Freie. Über ihnen hing die immerwährende Nacht dicht und schwer und sternlos. Zwischen einigen hohen Laternen standen einige Gestalten, die Hanna schon von weitem mühelos erkannte. Réka. Kunun und Atschorek. Die Wölfe waren ebenfalls da, Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Wölfen.
»Eine gute Jagd wünschen wir euch«, sagte Kunun gerade.
Ausgerechnet! Die Abschiedszeremonie.
Sie hatte Mattim allein sehen wollen; niemand sollte bei ihnen sein, wenn sie versuchte, das Märchen wahr werden zu lassen. Aber jetzt waren alle versammelt.
Atschorek drehte sich zu ihr um. »Ach, sieh an, wen wir da haben! Hanna, Schatz!«
Aus der Meute der Wölfe löste sich der eine Wolf, wegen dem sie hier war. Groß, mit goldgelbem Fell, kam er über den Hof zu ihr und sprang sie an, ohne sie umzuwerfen. Er bellte nicht, er versuchte auch nicht, sie abzulecken, wie es ein glücklicher Hund getan hätte. Er legte nur den Kopf auf ihre Schulter, und sie hielt ihn eine Weile fest.
»Mattim!«, flüsterte sie.
Dann stand er schon wieder auf allen vieren, blickte sie erwartungsvoll an, lief vor, sah zurück.
»Ich halte gerade eine Rede«, bemerkte Kunun säuerlich.
Hanna achtete nicht auf ihn. Sie eilte Mattim nach, hinter eine niedrige Mauer, wo er auf sie wartete. Er hatte gewusst, dass sie mit ihm allein sein wollte.
»Mattim.« Sie schlang die Arme um ihn. »Ich glaube, ich weiß, wie es geht. Wie ich dich erlösen kann.«
Es waren immer noch seine Augen. Seine Stimme fehlte ihr, seine Hände. Aber gleich würde sie ihn richtig in die Arme schließen können …
Der Gedanke kam ungebeten. Er ist, was er immer werden wollte. Mattims Traum hat sich erfüllt.
» Willst du das?«, fragte sie leise. »Dass ich …?«
Sie hätte nicht herkommen dürfen. Réka hatte recht gehabt. Atschorek und Kunun hatten gewusst, was sie taten, als sie ihr den Zugang verboten. Sie hatten gewusst, was es für Mattim bedeuten würde, sie noch einmal zu sehen. Nur sie selbst hatte es nicht wahrhaben wollen. Niemals hätte sie ihn vor diese Wahl stellen dürfen.
Sie barg das Gesicht in seinem Fell und weinte. Ihr zuliebe würde er zustimmen. Das wusste sie. Nur ihr zuliebe, um bei ihr zu sein, um in ihren Armen von den Wölfen und dem Wald zu träumen.
»Hanna?«
Sie hob den Kopf. Réka wirkte so jung und zerbrechlich. Sie trug Akinker Kleidung und sah darin aus wie eine Prinzessin, in einem langen, dunklen Kleid, auf dem Silber und Perlen schimmerten. Auch in ihr Haar waren Perlen geflochten. Hatte Atschorek sich diese Mühe gemacht? Niemals in ihrem alten Leben hätte Réka so etwas angezogen.
»Hanna, ich habe mir etwas überlegt. Du könntest meine Eltern ganz vorsichtig einweihen. Wirklich vorsichtig, meine ich, damit sie dich nicht für verrückt halten. Dann könnte ich sie doch einmal besuchen, oder? Wenn sie wissen, dass ich verschwinden muss, sobald die Sonne aufgeht?«
»Sie würden dich festhalten«, sagte Hanna leise. »Sie können es nicht glauben. So wie die Touristen im Labyrinth es nicht geglaubt haben. Sie würden dich festhalten und dich nie wieder loslassen.«
»Aber wenn …«
Hanna stand auf. »Du möchtest nach Hause, nicht wahr? Es
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