Magyria 02 - Die Seele des Schattens
andere Seite und möglichst nah an die Stadt heranzubringen. Vollkommen glücklich würdest du mich machen, wenn du ihn irgendwie in die Stadt schaffen könntest. Ich glaube nicht, dass sie diese nach allen Seiten hin so sorgfältig bewachen, wie sie es an der Brücke tun, aber selbst die anderen Tore, die auf die Landseite gehen, werden bei Nacht geschlossen sein.«
Kununs Stimme kam ihr fremd vor. Außerdem verstand sie kein Wort von dem, was er da redete.
»Vielleicht könntet ihr den Morgen abwarten. Sobald die Tore sich in der Frühe öffnen, könnte Wilder hineinrennen, an den Wachen vorbei, und wäre in der Stadt. Dazu braucht man natürlich ein Versteck ganz in der Nähe eines Tors. Ich habe einen Plan vom Gelände rund um die Stadtmauer. Wilder kennt ihn. Wenn du denn gewillt bist, dich nach meinen Anweisungen zu richten?«
Er sprach direkt zu dem Hund, und der Hund blickte zurück und knurrte leise.
»Solltet ihr es nicht in die Stadt schaffen«, sagte Kunun zu dem Tier, »dann weißt du, was du zu tun hast. Such dir für die Pforte eine gute Stelle aus. Falls ihr angegriffen werdet, zögere nicht. Nur lass es verdammt noch mal auf der anderen Seite passieren. Und jetzt ab ins Boot mit euch beiden.«
»Kunun?« Réka blickte entsetzt auf das große Ungeheuer, das leichtfüßig ins Boot sprang. »Ich soll …?«
»Nun mach schon«, sagte er.
Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Alles, was er zu ihr gesagt hatte, war schlagartig weg. Sie wusste nur, dass sie es nicht tun konnte, was immer es auch war. Es war falsch, alles war falsch. Der Wald und der Fluss und all das Gerede von Stadt und Angriff. Sogar der Hund war irgendwie falsch.
»Das ist ein Wolf«, sagte das Mädchen. Sie erkannte es mit einer Klarheit, die sie selbst überraschte. Durch ihre ganze Verwirrung und Enttäuschung hindurch drängte sich die Tatsache in ihr Bewusstsein, dass sie mit einem riesigen Wolf in ein Boot steigen sollte.
»Jetzt geh.« Kunun packte ihr Handgelenk und zog sie vorwärts, auf das Ufer zu. Mit Ferien, Eis und glitzernden Wellen hatte das nichts zu tun.
»Nein!« Réka heulte auf und versuchte sich loszureißen. »Lass mich los! Ich will nicht!«
»Réka, bitte«, rief Kunun. »Bitte, es ist ungeheuer wichtig.«
»Müsst ihr noch lauter schreien?«, fragte Atschorek ärgerlich. »Réka, stell dich nicht so an. Bring den Wolf auf die andere Seite.«
Die Fünfzehnjährige fing an zu weinen. Sie schämte sich dafür und konnte doch nichts dagegen tun.
»Kein Problem«, sagte Kunun, der sich nur mühsam beherrschte. »Dann wird Wilder eben schwimmen, und ihr trefft euch drüben am anderen Ufer. Das kannst du bestimmt tun, Réka, oder? Vergiss den Wolf. Rudere einfach rüber auf die andere Seite.«
»Nein. Nein!« Sie schluchzte, während sie versuchte, Kununs Hand abzuschütteln und sich in Sicherheit zu bringen.
»He, du kleine, verheulte Rotznase«, sagte Atschorek ungeduldig, »du wirst es doch wohl fertigbringen, das Boot über den Fluss zu rudern?«
»Warum tut ihr es nicht einfach selbst?«, rief Réka. »Wenn es so einfach ist, he?« Sie ging rückwärts, während sie um ihre Freiheit kämpfte, und kam dabei dem Ufer wieder näher.
Kunun ließ sie abrupt los, als ihre Füße in eine sumpfige Stelle im Gras traten.
»Es war ein Fehler, ihr den Wolf zu zeigen«, sagte Atschorek finster. »Beiß sie einfach, und dann versuchen wir es noch mal.«
»Komm her, Réka«, befahl Kunun.
Aber sie wich zurück. In diesem Albtraum, in den sie da geraten war, war ihr Held Kunun plötzlich eine dunkle Figur geworden, die vorhatte, ihr etwas anzutun. Sie schrie auf, verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings in den Fluss.
Das Wasser schlug über ihr zusammen. Es war so kalt, dass sie unwillkürlich nach Luft schnappte und Wasser einatmete. Die Welt ging in Entsetzen unter, in Finsternis und Kälte. Sie kämpfte gegen den Fluss, der sie mitriss, tauchte auf, sah die dunklen Gestalten am Ufer stehen.
»Kunun!« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Kunun!«
Er rührte sich nicht. Er sprang ihr nicht nach, er tat gar nichts.
Kunun …
Ihre nassen Kleider zogen Réka wieder nach unten, wo die Dunkelheit auf sie wartete. Schlingpflanzen tasteten mit glitschigen Fingern nach ihren Beinen und wickelten sich um ihre Füße. Sie ruderte wild mit den Armen, und wie Stricke legten sich die wogenden Algen um ihre Hände. Es war so finster … und noch tiefer, ganz unten, war Licht, wie am Ende eines
Weitere Kostenlose Bücher