Magyria 02 - Die Seele des Schattens
kann. Kein Kind. Wir brauchen jemanden, der älter ist, stärker, und der nicht in Ohnmacht fällt, wenn er merkt, dass wir Vampire sind. Jemand, der nicht blindlings ins Sonnenlicht rennt, ohne vorher Blut getrunken zu haben. Jemand, der bereits Bescheid weiß.«
»Hanna?« Atschorek zog die Brauen hoch. »Das Mädchen weiß nicht zu wenig, sondern eher zu viel. Das wird sie nicht tun.«
»Hanna schuldet mir noch einen Gefallen«, sagte Kunun und lächelte.
Réka kam im Auto zu sich. Sie warf Kunun einen erschrockenen Blick zu und rutschte von ihm fort.
»Es wird alles gut«, sagte er freundlich.
Das Mädchen wandte das Gesicht ab und blickte hinaus auf die Straßen der vertrauten Stadt.
»Du hättest es tun sollen, als sie noch geschlafen hat«, ließ Atschorek sich vernehmen.
»Nein«, widersprach er. »Ich erkläre es dir später.«
»Aber …«
»Später!«
Réka zuckte zusammen und verkroch sich noch tiefer in ihrer Ecke. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, sie schlug hastig die Hand vor den Mund und versuchte es zu unterdrücken.
»Wir sind gleich bei dir zu Hause«, sagte Kunun. »Vertrau mir. Es war nichts als ein Albtraum. Nichts als – Halluzinationen. Alles wird gut.«
»Wer’s glaubt«, murmelte Atschorek finster.
Sie hielt an einer roten Ampel und trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. Réka zögerte keinen Augenblick. Sie riss die Tür auf, sprang aus dem Wagen und rannte die Straße hinunter. Kunun hatte schon einen Fuß auf dem Asphalt, als Atschorek wieder Gas gab.
»Bist du verrückt?« Er schaffte es gerade noch, die Wagentür zu schließen.
»Ich nicht, aber du schon.« Atschorek warf einen schnellen Blick nach hinten und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. »Vergiss Réka. Wir verlieren zu viel Zeit. Wenn du Hanna willst, müssen wir uns sofort um sie kümmern. Es wird bald hell, die Tagwache wird jeden Moment die Brücke passieren. Wenn die blonde Hüterin entkommen ist, wird sie auf die anderen treffen und ihnen unseren Plan mit dem Boot verraten.«
»Sie kann gar nicht entkommen«, widersprach Kunun. »Réka …«
»Vergiss Réka! Dann irrt sie eben durch die Stadt und denkt, dass überall Vampire lauern. Womit sie gar nicht mal so unrecht hat. Sie wird es verkraften, glauben tut ihr eh niemand. Beim Licht, warum hast du sie nicht gebissen? Dann würde sie dich immer noch für ihren lieben Freund halten und sich selbst für einen Freak mit einer Gedächtnislücke.«
»Ich hätte ihr zu viel wegnehmen müssen«, knurrte Kunun.
»Ich glaube, du wolltest sie gar nicht beißen«, stellte Atschorek fest. »Ich glaube, du hast nur darauf gewartet, dass sie sich wieder beruhigt und sich daran erinnert, wie sehr sie dich verehrt. Wolltest du den Schrecken aus ihrem Gesicht verschwinden sehen? Dass sie deine Hand ergreift und flüstert: Es ist gar nicht so schlimm, dass du ein Vampir bist? Ist es das, was du willst – dasselbe, was Mattim hat?«
Kunun blickte sie so grimmig an, dass sie verstummte. Über ihnen tauchte die Frühlingssonne den Himmel in Gold und Weiß.
NEUN
Wald vor Akink, Magyria
Mirita rannte. Hinter ihr wurden die Schritte ihrer Verfolger immer leiser. Nur noch ihr eigener pfeifender Atem, nur noch das Krachen der Zweige und das Rascheln der Blätter unter ihren eigenen Fußsohlen waren zu hören. Sie wurde nicht langsamer, sondern eher noch schneller, auch wenn der Schmerz in ihren Muskeln kaum mehr auszuhalten war. Wenn die Schatten aufgegeben hatten, würden die Wölfe kommen. Sie horchte nach hinten, ohne anzuhalten, und stürzte über eine Wurzel. Einen Moment blieb sie liegen, dann rappelte sie sich auf. Ihre bleischweren Beine wollten ihr den Dienst versagen, doch langsam fand sie wieder in den Rhythmus ihrer Schritte zurück.
Ein Boot. Ein Wolf. Ein Mädchen, von Schatten verfolgt. Ein Boot.
Wenn sie es nicht bis zur Brücke schaffte, war Akink verloren. Das wusste sie, auch wenn sie sich nicht vorzustellen vermochte, was die Schatten vorhatten. Sie konnten nicht über den Fluss, auch nicht mit einem Boot. Das Eis war längst geschmolzen. Der Donua bewachte die Stadt, zuverlässig wie eh und je. Trotzdem planten die Schatten schon wieder etwas, irgendeine Teufelei war da im Gange, und sie war die Einzige, die Akinks Untergang verhindern konnte. Nur deshalb rannte die junge Flusshüterin weiter, obwohl sie keine Chance hatte, die Stadt zu erreichen. Von der Nachtpatrouille war keiner mehr übrig, und die Tagpatrouille
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