Magyria 02 - Die Seele des Schattens
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VIERZEHN
Budapest, Ungarn
Mattim brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Vor sich sah er eine Wand – nein, einen Zaun. Dahinter ragten die erleuchteten Fassaden der Häuser vom Baross tér in den Nachthimmel. Die große Tafel, auf der abwechselnd Werbung, Uhrzeit und Temperatur vorbeiliefen. Atschorek hatte darauf bestanden, dass er die Uhr zu lesen lernte. Die Fassade des Bahnhofs hatte er längst erkannt. Vor ihm in der Dunkelheit merkwürdige Umrisse, die er nicht sofort deuten konnte.
Die Baustelle! Er war auf der Baustelle gelandet, wo sie neue Schächte in die Erde trieben. Nur noch über den Zaun musste er klettern und war zu Hause.
Vor der verschlossenen Tür unter dem immerzu wachsamen Löwen zögerte er kurz, bevor er klingelte. Eine ganz ähnliche Vorsicht lag in Gorans Augen, als sie die Tür einen Spalt breit öffnete und hindurchspähte.
»Mattim!«
Warum war sie so verwirrt? »Mach auf«, befahl er schroff. Angst packte ihn. Ohne Rücksicht schob er die Tür auf und stand in der Eingangshalle.
»Wo kommst du denn her?«, fragte sie etwas zu gewollt freundlich. »Durch welche Pforte, meine ich? Ich dachte …«
»Was ist hier los?«, unterbrach er sie. »Wo ist Kunun?«
Im selben Moment hörte er eine Kinderstimme.
»Mattim! Mattim!« Attila rannte aus dem Innenhof und schlang die Arme um ihn. Der kleine Junge hielt ihn so fest, wie er nur konnte, während sich hinter ihm mehrere Vampire näherten.
»Ich habe dir doch gesagt, es war keine gute Idee, ihn in den Hof zu lassen!«, rief einer.
»Und? Konnte ich denn ahnen, dass …«, begann Goran und verstummte.
Mattim sah von einem zum anderen. Niemand wollte ihm in die Augen blicken. Nicht einmal die blonde Frau, die einmal seine Kameradin gewesen war.
»Attila, was machst du hier?«, fragte er so ruhig wie möglich.
»Ich will nach Hause.« Der Kleine weinte nicht, aber seine Stimme zitterte leicht.
»Natürlich. Komm, ich bringe dich nach Hause.«
Er nahm den Jungen bei der Hand.
»Kunun hat …«, begann einer der Vampire.
»Was hat Kunun?«, unterbrach der Prinz scharf.
»Du kannst ihn nicht einfach wegbringen«, protestierte Goran kleinlaut. »Wir haben den ganzen Tag auf ihn aufgepasst. Wir sollten warten, bis wir Bescheid bekommen.«
Noch nie hatte Mattim sich so sehr einen flammenden Blick gewünscht, mit dem er sie alle hätte hinwegfegen können. So jedoch konnte er nur den Kopf schütteln, als er mit dem Kind zur Tür ging.
»Mattim! Mattim, er hat uns alle gesehen!« Goran stellte sich ihm in den Weg, aber er schob sie zur Seite, auf die Gefahr hin, dass sie ihn angriff.
»Du musst ihn das alles vergessen lassen! Das Haus, unsere Gesichter!«
Ohne ein Wort öffnete er die Tür und führte Attila nach draußen.
»Fahren wir mit der Metró? Ich hab kein Ticket.«
»Ich kauf dir eins.«
An den Stufen zur Untergrundbahn blieb Attila stehen und zog an Mattims Hand. »Mein Schulranzen! Ich hab meinen Ranzen vergessen!«
»Das macht nichts«, sagte Mattim. »Ich werde ihn später holen.« So viele Fragen waren offen, aber er wollte das Kind nicht überfordern.
In der Bahn lehnte der Junge den Kopf gegen seine Schulter und gähnte. »Ich bin müde. Dabei habe ich ganz viel Cola getrunken. Eine ganze Flasche, bestimmt! Eine riesengroße!«
»Das muss ja ein toller Tag gewesen sein.«
»Erst haben wir mit Dinos gespielt. Ich wollte sie Hanna zeigen, aber sie war gleich wieder weg, und die Tür war zu.«
»Hanna war hier? Hat sie dich hergebracht?«
Attila überlegte. »Hanna hat mich zur Schule gebracht. Aber ich bin gar nicht in die Schule reingegangen. Da ist diese Frau gekommen. Sie ist die Schwester von Rékas Freund. Réka war aber gar nicht da. Die ganze Zeit nicht. Jetzt war ich gar nicht in der Schule. Dann kann ich doch auch keine Hausaufgaben machen?«
»Nein, das kannst du wohl nicht.«
»Mama wird böse sein, oder?«
»Bestimmt nicht«, versicherte Mattim. »Sie wird sich sehr freuen, dich zu sehen.«
»Sie wird auch nicht schimpfen, weil ich so viel Cola getrunken habe?«
»Nein. Heute nicht. Heute war ja ein besonderer Tag.«
Damit war Attila zufrieden. Nun, da er hoffte, straffrei auszugehen, begann er alles aufzuzählen, was er zu essen bekommen hatte. Die Vampire hatten ihn mit Hamburgern und Süßigkeiten vollgestopft.
»Ich glaube, Rékas Freund hatte Geburtstag«, fasste er schließlich die Ereignisse zusammen, als sie die U-Bahn-Station verlassen hatten. »Nur, es waren
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