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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Schwarz herab, das sie je gesehen hatten. Die Sterne (»ungefähr zehntausend«, sagte David) waren deutlicher als je, füllten den Himmel wie leuchtende Staubkörner. David sah auf – sein Nacken tat weh, und er zitterte vor Kälte –, und langsam schienen sie ein Muster zu ergeben, und dann war es ein anderes Muster und dann wieder ein anderes ... »Aber das«, sagte er, »hat nichts zu bedeuten, es ist Zufall. Alles nur Zufall. Die Zeit löscht es aus.«
    Am nächsten Morgen konnte er nicht durch dieNase atmen, und sein Hals tat weh. Marcel starrte hilflos auf eine Landkarte, schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Dann irrten sie einige Stunden lang durch die Hitze. David spürte, wie das Fieber anstieg, wie die Wärme in ihm und die Wärme um ihn sich zu einem orangefarbenen Gefühl von Unwirklichkeit mischten. Das muß ein Traum sein, dachte er; aber wenn er die Augen aufschlug, war da wieder die unerträglich starke Gegenwart der Wüste, wie ein schmerzender Druck gegen sein Bewußtsein, und er schloß die Augen und überließ sich seiner Übelkeit und den ins Groteske wachsenden Zahlen, die durch seinen Geist kletterten. – Kurz bevor ihr Benzin ausging, begegnete ihnen ein Fahrzeug mit drei freundlichen Engländern, die ihnen Treibstoff gaben und vor ihnen herfuhren bis zur nächsten Stadt.
    Es dauerte zwei Wochen, bis Davids Lungenentzündung soweit überwunden war, daß sie zurückfliegen konnten. »Vielleicht«, sagte Marcel und lehnte den Kopf an das runde Fenster, hinter dem sich strahlende Wolkenwirbel formten, »hast du recht. Vielleicht sollten Leute wie wir daheim bleiben!«
    »Ja«, sagte David, »vielleicht.« Aber er fühlte sich wohl. Zum erstenmal war er etwas dünner geworden. Das Fieber hatte ihm geholfen: Einige Probleme hatten zu verzerrten, scheinbar widersinnigenLösungen gefunden, auf die man bei gesundem Verstand nicht gekommen wäre, die aber – wirklich, es sah ganz so aus – korrekt waren. Es war ihm, als ob er in diesen zwei aus seiner Erinnerung gelöschten Wochen ununterbrochen gearbeitet hatte. Als ob ihm Öffnungen, Verbindungen, Wege zur Verfügung gestanden hatten, die jetzt wieder verschlossen waren.
    »Vielleicht würde es mir nützen«, sagte er nachdenklich, »wenn ich verrückt wäre.«
    »In diesem Punkt kann ich dich beruhigen. Du bist verrückt.«

VII
    Und was ist Zeit anderes als Verfolgung? Jene Regel, die vorschreibt, daß der Zerfall uns näherrückt, wie allem, wie jedem Wesen; die behauptet, daß die Welt sich verströmt und alle Sonnen in die Kälte fließen, bis sie ausgebrannt sind. Dann wird es keine Strahlung mehr geben, kein Licht, und zum Ende wird es eisig sein, für immer. Es wird noch Raum sein, aber nichts wird ihn mehr füllen, also wird kein Raum sein. Es wird keine Veränderung mehr geben; die Zeit wird sich geschlossen haben, ihr großes Werk der Zerstörung ist getan.
    Zum Beispiel der Regen, wie er dort hinter Grauwalds Kopf an die Scheibe trommelt. (David wies darauf, der Professor drehte sich nicht einmal um.) Die Tropfen schlagen auf, gläserne Punkte, weiten sich zu Kreisen, überschneiden sich, ein sehr reines geometrisches Spiel noch. Aber dann – jetzt schon – wirken die Schwerkraft auf sie und der Wind und all die Kräfte der immer anwesenden, nie nachlassenden, tötenden Natur. Und sie verformen sich, nehmen für Momente amüsant absurde Umrisse der Zufälligkeit an, und dann geben sie sich auf; bilden einen Film von gleichförmiger Flüssigkeit auf dem ebenso, doch so viel langsamer fließenden Glas. Es geschieht ständig: Jede Ordnung stürzt ihrer Auflösung zu, und was getrenntist, wird eins, und alles, was Grenzen hat, muß diese verlieren. Durch einen unendlich fernen Verstand bewegen sich Zahlen; und die Welt ereignet sich.
    Und die Zeit? Blickt man darauf, scheint sie durchsichtig zu werden. Das Gewebe öffnet sich, und schon ist es dahin, und nur die Bewegung von Gestirnen bleibt, der Wandel von Dingen, ein Rauschen, eine Folge von Tönen und vielleicht noch die hinkende Bewegung des Zeigers auf einer Armbanduhr oder das Vorbeiziehen von Häusern und Bäumen am Zugfenster, unter dem rhythmischen Aufblitzen der Sonne ...
    Wenn aber nun (David räusperte sich, er spürte, wie seine Gedanken wieder abirrten, und Grauwalds Gesicht schien ferner zu rücken, dieses mürrisch ausdruckslose Kartoffelgesicht; aber jetzt erst kam das Entscheidende; du mußt dich, dachte er,

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