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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Nervosität niederzukämpfen; tief atmen, dachte er, ich muß nur tief atmen; und er hörte seiner Stimme zu, aber es gelang ihm nicht ganz, ihr zu folgen. Seine Gedanken schweiften ab, für einen Moment sah er sehr klar das Meer vor sich und spürte den Geruch von Tang und fragte sich, ob er nicht eigentlich noch dort und dieser Saal nur ein Erzeugnis seiner Phantasie war; und dann fühlte er sich im Gras liegen und das Gewicht von Maria Müller auf sich, und eine Ameise krabbelte kitzelnd an seinem Hals entlang; und dann, für eine Sekunde, sah er das Gesicht seiner Schwester mit offenen Augen und durchschnittenem Hals, und sein Aufschrei ging in dem Lärm unter, der im selbenMoment losbrach und ihn in diesen Saal, an dieses Pult zurück riß.
    »Und dann?« fragte Katja.
    »Ich weiß nicht. Jedenfalls war es ziemlich laut. Ein paar Leute sind aufgesprungen und haben geschrien, und einer hat mit dem Finger auf mich gezeigt, und ein anderer hat immer wieder gerufen ›Laßt ihn reden, laßt ihn doch reden!‹, und zwei sehr alte Männer weit hinten haben geklatscht, aber das hat niemand beachtet. Wohllob, in der ersten Reihe, hat mich nicht angesehen. Und dann sind noch mehr Leute aufgestanden, und dann haben sie sich gegenseitig angebrüllt, und jemand hat ins Mikrofon gesagt, sie sollen doch ruhig sein, man kann über alles diskutieren, und jemand hat gerufen ›Darüber nicht!‹, und dann haben alle gelacht, und dann bin ich gegangen. Ja, dann bin ich gegangen.«
    Er schwieg. Katja sah ihn an: Sein Gesicht hatte rote Flecken, seine Haare standen unordentlich von seinem Kopf ab, er atmete schwer.
    »Am nächsten Tag war es sogar in der Zeitung: Eklat auf Physikerkongreß. ›Ein unbekannter Anfänger trug abstruse Theorien vor, wurde in der Mitte seiner Rede unterbrochen und lief hinaus.‹ Daneben ein Interview mit Grammholz, dem Veranstalter, der sagte, er kann es sich nicht erklären, und es wird nie wieder passieren, und man muß eben besser aufpassen, wen man einlädt. Wohllobspricht seither nicht mit mir. Ich nehme an, meine Stellung bin ich auch los.« Er lächelte und warf Katja einen seltsam klaren Blick zu. »Ich bin doch selbst schuld, nicht? Ich hätte es wissen können.«
    Er ging zu seinem Schreibtisch, öffnete eine Schublade und nahm zwei Blätter heraus.
    »Sieh mal! Zwei Kollegen haben mir geschrieben. Ohne voneinander zu wissen. Sie fanden es interessant, trotz allem, und sie vermuten, daß ich recht haben könnte, und wollen mit mir reden.« Er warf die Briefe zurück und stieß die Schublade zu. »Ich werde mich hüten!«
    »Aber warum?« fragte Katja. »Sie wollen dir helfen!«
    »Allerdings! Aber denselben Fehler mache ich nicht zweimal. Ganz bestimmt nicht!«
    »Und Valentinov?«
    David antwortete nicht
    »Was ist mit Valentinov? Was hat er gesagt?«
    »Er war nicht da. Keiner wußte, warum. Er ist einfach nicht gekommen. Ich habe ihm meinen Vortrag geschickt, aber er hat nicht geantwortet.« David rieb sich die Stirn. »Er hat einfach nicht geantwortet.«
    Doch dann hatte David Glück. Oder eine seltsame Abart davon: Eine Woche später legte Professor Wohllob sich ins Bett, deckte sich zu, löschte das Licht, schlief ein und wachte nicht mehr auf, nie wieder. Sein Nachfolger wurde Ernst Grauwald, der von dem Kongreß nichts wußte, der niemals zu Kongressen ging und für den die Wissenschaft ein Ort umsichtiger Machtpolitik war. David sah ungefährlich und sogar nützlich aus, und so verlängerte er seinen Vertrag. – Und dann starb noch jemand.
    Das Begräbnis fand wieder, durch einen Zufall, im Sommer statt; als gehörte das dazu. David stand neben Wöbeling und sah zu, wie die längliche Holzkiste sich senkte und in ihrem viereckigen Loch verschwand; auf der Stirn des Mannes, der die Kurbel drehte, standen Schweißtropfen. Plötzlich hatte David das Gefühl, daß alles, was sich zwischen diesem Begräbnis und dem letzten ereignet hatte, eine Täuschung war, ein Irrtum; daß sein Leben sich nie anderswo abgespielt hatte, als auf diesem Friedhof. Er ließ eine Schaufel Erde fallen, die mit einem prasselnden Geräusch auf das Holz traf und liegenblieb, ein Häufchen bräunlicher Schmutz. Dann verabschiedete er sich von Wöbeling und ging heim.
    Er wurde jetzt häufiger krank. Seine Arbeit (für die er nichts brauchte als einen Tisch und Papier und Schreibzeug und die sich auch beim Gehen fortführen ließ oder in der Straßenbahn oder im Bett, nahe am Einschlafen) erschien ihm wie eine

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