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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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einen gelben, unreinen Schein aus.
    Das déjà vu war so heftig, daß er zu stottern begann. Ja, er mußte schon hiergewesen sein. Und zugleich war ihm, als wäre er gerade anderswo, in einem Bett, weit entfernt in Raum und Zeit. Er räusperte sich und wollte weitersprechen, aber er wußte nicht mehr, wo er unterbrochen hatte. Er räusperte sich noch einmal.
    »Und?« fragte Grauwald, ohne aufzusehen. »Ist das alles?«
    David versuchte nachzudenken. Aber er wußte nicht mehr, wie weit er gekommen war, er hatte keine Erinnerung an die letzte Stunde: Er hatte geredet und geredet, bis er heiser war, doch sein Bewußtsein war anderswo gewesen. Wie damals, bei seinem Vortrag.
    »Ja«, sagte er zögernd. »Das ist alles.«
    Grauwald sah auf den Tisch und schwieg. Der Regen war sehr laut. Im Nebenzimmer läutete ein Telefon.
    »Ich weiß nicht recht«, sagte Grauwald, »wo ich anfangen soll. Am liebsten würde ich ... Aber Sie wollen ja eine Stellungnahme. Sie wollen sogar, daß das gedruckt wird, nicht?« Er schwieg, kniff die Augen zusammen und betrachtete seinen Handrücken. Das Telefon läutete wieder.
    »Was Sie da vorgetragen haben ... Also ich muß gestehen, daß es mir ab einem bestimmten Punkt nicht mehr möglich war ... Und bitte sehen Sie, was Sie angerichtet haben!«
    Der Tisch war bedeckt mit bekritzelten Blättern. Auf dem Boden lagen zwei Kugelschreiber, ein Bleistift und eine Schachtel Büroklammern, die sich geöffnet und ihren Inhalt, hundert winzige, glitzernde Klammern, über die gesamte Fläche des Teppichs verteilt hatte. Das Telefon läutete noch einmal, zögerte, gab es auf.
    »Ich habe Sie nicht unterbrochen«, sagte Grauwald, »auch wenn ich, das gebe ich zu, schon eineWeile nicht mehr zugehört habe. Ich ... habe nichts verstanden! Nichts! Und warum?« Seine Handflächen klatschten gegeneinander. »Weil es da nichts zu verstehen gibt! Herr Doktor Mahler, ich habe noch nie ein derart verworrenes Zeug gehört, so ein ... so ein ...« Er hob eine Hand, ballte sie zur Faust und schlug plötzlich, wohl auch zu seiner eigenen Überraschung, so fest auf den Tisch, daß einer der Papierbälle wegsprang und die Lampe und ein Brieföffner leise klirrten. »Jedenfalls werde ich nicht meinen Ruf riskieren, indem ich so etwas ... Nicht einmal Ihre Rechnungen stimmen!«
    »Ich denke schon«, sagte David, »daß meine Rechnungen stimmen. Werden Sie es drucken?«
    »Haben Sie mich nicht verstanden?«
    David strich sich über die Stirn. Er atmete schwer. »Herr Professor, ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten, sondern nur darum ... Glauben Sie, daß es Wächter gibt?
    »Was?«
    »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich denke, manche Dinge sollen nicht entdeckt werden ...« Er blickte zum Fenster. Es regnete nicht mehr. Der Himmel sah grau aus, wie aus Metall.
    »Sie sind verrückt«, sagte Grauwald langsam.
    »Vielleicht. Aber irgend jemand sucht mich. Und meine Rechnungen stimmen.«
    »Glauben Sie, ich kann das nicht beurteilen?« Grauwalds Kopf machte einen Ruck, seine Augenschienen noch kleiner zu werden. »Halten Sie mich für einen Idioten?«
    David sah ihn an. Unterdrückte einen Hustenanfall, hielt sich an den Stuhllehnen fest, sah ihn an.
    »Das ist eine Frechheit!« schrie Grauwald. »Eine Unverschämt ... Und wird auch nicht ... nicht ohne ...! Passen Sie auf, ich werde Ihnen Ihre Fehler zeigen, es wird mir ein Vergnügen sein. Sie setzen sich hier hin, faseln von Entropie und von Wächtern, wollen mir abstruse, erfundene Formeln verkaufen, versuchen haarsträubende Beweise für diesen Unsinn und ...«
    »Werden Sie meinen Artikel drucken?«
    »Natürlich nicht!«
    David stand auf.
    »Sie bleiben!« brüllte Grauwald. »Sie gehen jetzt nicht! Sie werden mir zuhören!«
    David wandte sich ab.
    »Mahler!«
    David blieb stehen.
    »Haben Sie schon mit einem Fachmann gesprochen?«
    »Ich dachte, Sie sind einer.«
    »Nein, das meine ich nicht. Ich meine ... Sie brauchen Hilfe.«
    David starrte ihn an. Auf dem Gang näherten und entfernten sich Schritte. Siebenundneunzig Klammern waren es auf dem Boden, nicht hundert, bloß siebenundneunzig. Er wandte sich zur Tür.
    »Bleiben Sie hier!« sagte Grauwald leise. »Man kann über alles reden, von mir aus auch über Ihre Theorie, von mir aus ... Machen Sie keine Dummheiten!«
    David riß die Tür auf und ging hinaus. Den leeren, sanft schwankenden Gang entlang. Ihm war schwindlig. Er hörte noch, wie die Tür hinter ihm ins Schloß fiel und mit einem

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