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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Landschaft. Während der Fahrt horchte er mißtrauisch auf die Schläge seines Herzens, die sich jetzt anfühlten und sich für immer anfühlen würden wie die Bewegungen eines unberechenbaren Gegners. Es fiel ihm schwer, nicht mehr zu rauchen; es fiel ihm schwer, wenig zu essen, obwohl das Essen nicht gut war. Das Wasser in dem Becken, in dem er jeden Morgen schwimmen mußte, war zu warm, roch nach Chlor und Schwefel, und obwohl er ein guter Schwimmer war, hatte er Angst vor dem Ertrinken.
    Er arbeitete den ganzen Tag. Er schrieb nichts mehr auf, sondern hielt alle Formeln vollständig in seinem Gedächtnis fest: Das erforderte mehr Konzentration, aber dafür ging es schneller. Und man mußte nie unterbrechen; auch nicht während man aß oder schwamm oder schwer atmend, schwitzend unter der zu starken Sonne spazierenging. Über einen steilen Weg, auf- und abwärts, über niedrige Hügel. Er hörte sich keuchen.
    Dann mußte er ausruhen. Sein Herz klopfte hastig; das Blut pulsierte in seinen Ohren. Er setzte sich neben den Weg, in die Wiese. Dann legte er sich vorsichtig hin. Er gähnte. Sein Herzschlag wurde ruhiger.
    Er atmete aus und ein und aus. Das Gras kitzelte ihn an den Ohren. Für einen Moment fiel ihm Maria Müller ein, und er fragte sich, wo sie war. Ein Flugzeug schwamm sehr langsam durch das Blau, blinkend, als wollte es darin besondere Stellen markieren; es verschwand hinter einer Wolke und kam nicht mehr hervor. Es war völlig still.
    Es war zu still.
    So eine Stille hatte er noch nie erlebt. Ein Flimmern zog durch die Luft. Er spürte, daß er angesehen wurde. Er kniff die Augen zu, ließ einige Sekunden vergehen, öffnete sie wieder.
    Da war nichts. Auch nicht das Flugzeug, auch keine Wolke. Nur der nahe, plötzlich sehr nahe Himmel.
    In einer Farbe, die er noch nie gesehen hatte. Sie schmerzte in seinen Augen, auf seiner Stirn, auf seiner Haut. Er bewegte sich nicht. Er versuchte einzuatmen, aber da war keine Luft. Der Himmel umschloß ihn fest.
    Selbst das Gras stand ganz ruhig, war nicht mehr zu fühlen. Der Himmel rückte näher. Er konnte noch immer nicht atmen.
    Mit aller Kraft schloß er die Augen. Es half nicht: Der Himmel blieb sichtbar. Ein Anfall vonPanik, von hilfloser, brennender Angst lief durch seinen Körper. Es dauerte an, immer noch. Und immer noch. Und immer noch.
    Als er zu sich kam, war es dunkel. Irgendwann hatte sein Bewußtsein nachgegeben, war zurückgewichen, erloschen. Er wußte nicht, wie lange er so dagelegen hatte. Die Bäume neben der Wiese waren zu Silhouetten geworden. Ein Vogel schrie, von der Straße her hörte er das dumpfe Geräusch eines Autos. Eine Wolke gab den Mond frei, wie eine Messingscheibe, fleckig und nicht ganz rund. Davids Haut schmerzte vom Sonnenbrand, und das Aufstehen fiel ihm schwer; seine Gelenke fühlten sich steif und abgenutzt an. Er ging langsam und vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, zurück zu seiner Pension. Wenigstens war es noch nicht zu spät für das Abendessen. Er wußte, es war wieder eine Warnung gewesen. Vielleicht die letzte.
    In der Nacht schlief er lange nicht. Zum erstenmal wollte er aufhören. Er mußte auf dem Rücken liegen, wegen des Sonnenbrandes konnte er sich nicht auf die Seite drehen. Er dachte an die Farbe, die er gesehen hatte (später versuchte er, sie aus anderen Farben zu mischen, etwas zu erzeugen, das ihr ähnlich sah, aber das erwies sich als unmöglich, und danach vermied er es, sie sich auch nur vorzustellen). Er stöhnte leise. Nein, es war nicht möglich, er konnte nicht aufgeben, er hatte schon zuviel erreicht. Die Zeit, die stumme, tödliche Zeit: Es gab einen Weg, ihr zu entkommen.
    Er benutzte den Spray. Sein Kopf schmerzte, und ihm war heiß: wahrscheinlich hatte er auch wieder Fieber. In ihm errichteten sich seltsam häßliche Zahlen und arrangierten sich zu immer neuen Multiplikationen; mit aller Kraft schob er sie weg. Sein beschädigtes Herz pochte, pumpte Blut durch einen fetten, nachlassenden Körper. Und während er hier lag, in diesem Bett, auf dem Rücken, ohne Decke, denn die tat zu weh, und auf den Schlaf wartete, entstand in ihm ein starkes Gefühl von Unwirklichkeit. Als wäre er (aber das war schon Teil eines Traumes) nicht mehr hier, sondern in einem Büro, vor einem Tisch, an dem ein alter Mann saß, in einem schwarzen Anzug, den Kopf auf die Fäuste gestützt, den Blick aus halb geschlossenen Augen auf die Tischplatte geheftet. Regen trommelte ans Fenster. Die Lampe sandte

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