Mahlers Zeit
sie anerkannt. Eine Zeitlang war Valentinov von Vortrag zu Vortrag gereist, immer wieder war seine dünne, sehr gerade Gestalt im Fernsehen aufgetaucht, wo er überraschend verständliche Antworten auf einfältige Journalistenfragen gab, höflich und meist etwas altmodisch gekleidet. Nachdem er auf der Titelseite von Time abgebildet gewesen war (David hatte sie aufbewahrt; man sah ihn mit einem verlegenen Lächeln unter der schief gedruckten Überschrift Neutrino’s Master ), war er plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwunden. Er beantwortetekeine Fragen mehr, schrieb keine Artikel und erschien nur noch selten zu lange angekündigten Vorträgen an merkwürdig provinziellen Orten.
David wachte auf, sah auf die Uhr, erschrak, ohne noch zu wissen, weshalb; dann fiel es ihm ein, und er erschrak noch einmal und sprang auf. Beim Rennen zur Straßenbahn brach ihm der Schweiß aus, sein Pullover zerknitterte, seine Beine schmerzten. Als die Bahn nach zehn Minuten noch nicht da war, winkte er einem Taxi. Er atmete schwer, ihm war schwindlig. »Keine Angst«, sagte der Fahrer gleichgültig, »wir schaffen das.« Er hielt, und David bezahlte, rannte die Stufen hinauf, stolperte durch die Drehtür, durchquerte die Eingangshalle und riß die Tür zum großen Hörsaal auf ...
Ihm strömten Studenten entgegen, auf dem Weg hinaus. Einige saßen noch da, blätterten in ihren Notizen, unterhielten sich leise. Sie sahen verwirrt aus. Sie hatten nichts verstanden. Und Valentinov war eben gegangen.
David schnappte nach Luft; er war zu schnell gelaufen. Er hatte seit Wochen an diesen Tag gedacht, er hatte sich darauf vorbereitet, sich einige Fragen zurechtgelegt, die man nur Valentinov stellen konnte, nur ihm, niemandem sonst. – Er ging durch die Halle, an der Portiersloge vorbei, durch die Drehtür. Auf den Stufen vor dem Eingang und auf den Bänken um den Platz saßen Studenten, alte Damen, Rentner; ein paar Kinder spielten in einemSandkasten. Am Straßenrand parkte ein weißer Mercedes.
An der Wand des Universitätsgebäudes öffnete sich eine Tür, und Valentinov trat heraus. Er hatte eine spitze Nase, runde Brillengläser, einen kurzgeschnittenen Bart, wie auf den Fotos, und er lächelte, scheinbar grundlos, vor sich hin. Er strich sein Jackett glatt, warf einen Blick in den Himmel, blinzelte, rieb sich die Stirn, öffnete die Tür des Wagenschlages und stieg ein. Das Auto fuhr an, umkreiste das Halbrund des Platzes, blinkte, bog rechts ab und war verschwunden.
David nickte, steckte die Hände in die Taschen und ging nach Hause. Eine Woche lang sprach er mit niemandem, tauchte nirgendwo auf und verließ seine Wohnung nicht.
Er schrieb einen Aufsatz über thermische Prozesse in Flüssigkeiten, der in den Facetten der Physik veröffentlicht wurde. In der nächsten Ausgabe fanden sich drei Leserbriefe. Einer nannte den Artikel »hochinteressant«, einer »wirr« und der dritte sprach von »einer sinnlosen Ansammlung von Gerede, Irrtümern und Phantasie«. David schrieb eine Replik, aber der Herausgeber der Facetten, Ernst Grauwald, weigerte sich, sie abzudrucken.
»Man sollte sich über so etwas nicht aufregen«, sagte Marcel. »Bitte glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
»Darum geht es nicht. Ich hätte es mir denkenkönnen. Von jetzt an wird es immer schwieriger. Ich bin zweimal ...«
»... zweimal gewarnt worden. Ich weiß. Von wem eigentlich?«
Aber David schüttelte den Kopf und antwortete nicht; und Marcel zuckte beleidigt die Achseln.
David lebte jetzt von einer monatlichen Überweisung seines Stiefvaters Wöbeling. Dieser war mit seiner Frau, die nun auch Wöbeling hieß (ein Gedanke, an den man sich unmöglich gewöhnen konnte), in eine weit entfernte Stadt gezogen, und David hatte das starke Gefühl, daß er dafür bezahlt wurde, Distanz zu halten. Dagegen hatte er nichts einzuwenden. Außerdem kaufte plötzlich eine Firma die Lizenz zur Herstellung seines Kondensators und bezahlte erstaunlich viel Geld. Ein paar von den rundlich blauen Gegenständen wurden ihm sogar zugeschickt. Er hielt einen zwischen Daumen und Zeigefinger, hob ihn ans Licht, kniff ein Auge zu und empfand ein merkwürdiges Gefühl der Befriedigung.
»Eigentlich ist es schade«, sagte er zu Katja. »Ich hätte eine Menge von solchen Dingen erfinden können, alle nett, einfach und brauchbar. Aber jetzt geht das wohl nicht mehr!«
Er schrieb ein paar Wochen an seiner Dissertation, Azyklische thermodynamische Prozesse, und bestand mit
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