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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Bewegung gegen einen wachsenden Widerstand. Oft fiel ihm das Atmen schwer, ihm wurde schwindlig, die Farben wichen aus den Gegenständen, ein hohes, rauschendes Geräusch floß durch sein Gehör und übertönte alles andere. Es gab Tage, an denen jede Bewegung seines Körpers einen schwach schmerzenden Gegendruck hervorrief. Und seine Kurzsichtigkeit verschlimmerte sich ungewöhnlich schnell: Er brauchte eine neue und dann wieder eine neue Brille. Er hatte oft Fieber, er erkältete sich immer leichter.
    »Ich muß mich beeilen«, sagte er zu Marcel, »wenn ich einmal fertig bin, dann ist es vorbei, dann habe ich gewonnen. Aber wenn ich es nicht bald schaffe, dann ...« Er zog seinen Schal fester um den Hals und starrte Marcel mit seinen von der Brille verkleinerten Augen an; man konnte, das fiel Marcel wieder einmal auf, nicht sagen, welche Farbe sie hatten. »... dann verliere ich.«
    Er machte lange Spaziergänge. Ging durch die Stadt, bis seine Füße weh taten, die Hände in den Taschen, den Blick auf seine abwechselnd auftretenden Schuhe gerichtet. Etwas in ihm zählte mit: seine Schritte, die Fugen im Asphalt, die Hydranten am Straßenrand, die Schuhpaare von Passanten, die er nicht ansah und oft anrempelte und deren Schimpfworte ihm der kühle, nach den Pizzabuden riechende Wind hinterhertrug. Seine Hände in den Taschen ballten sich, sein Atem ging schneller, seine Konzentration war fast vollkommen.
    Er blieb stehen. Er war auf dem Hauptplatz, vor dem alten Rathaus, in dem Marcel seit einiger Zeitarbeitete; aber er erkannte es nicht. Er hob den Kopf und sah ein spitzwinkeliges Dreieck, das ein Oval schnitt: den Turm des Rathauses und eine Regenwolke. Wie früher im Fußballtor war die Welt zurückgewichen und alle Formen waren klar und geometrisch geworden; fast fühlte er sich wieder durch die Luft gleiten. Und die Lösung schien nahe. Er atmete, – aber es gab keinen Atem mehr, nur einen pulsierenden Wechsel, das Auf- und Abgleiten einer Kurve. Und die Lösung schien sehr nahe. In die Kurve mischte sich eine zweite, von höherer Frequenz, hinauf und hinunter rasend. Das Oval hatte sich von dem Dreieck entfernt, zwischen den beiden öffnete sich leerer Raum, aufgespannt von den Achsen eines Koordinatensystems, in dessen Mittelpunkt ... Da schoß eine Spitze aus Schmerz durch ihn; er hörte sich aufschreien und spürte, daß er tatsächlich fiel und daß die zweite Kurve, die schnellere, nichts anderes war als das Pochen seines Herzens.
    Er sah den Turm über sich und die runde Wolke und die Gesichter von Menschen, die sich über ihn beugten und ihre Lippen bewegten und Laute von sich gaben, die er nicht verstand. Dann trennte ihn der Schmerz von ihnen. Und von allem, was außerhalb seines Körpers war.
    Eine weiße Fläche zog vorbei, erhellt von einer, zwei, drei Neonröhren; nach der vierten verschwamm alles, und ein kleines Mädchen wandteihm den Rücken zu und gab irgend jemandem Zeichen mit beiden Händen, er wußte, wer sie war. Dann wurde sie von einer Flut aus grellem Licht weggespült; eine sehr starke Lampe strahlte ihm in die Augen, jemand preßte etwas auf sein Gesicht, eine Maske aus Kunststoff, und ein elektrisches Pfeifen füllte die Luft und hörte nicht auf und hörte nicht auf und hörte nicht auf und hörte ...
    »Doch ja«, sagte der Arzt lächelnd und strich zärtlich über seinen Schnurrbart, »ich gebe zu, das ist eher selten. Aber durchaus nicht so ungewöhnlich, wie Sie denken. Auch bei jüngeren Menschen, selbst bei Kindern gibt es immer wieder Infarkte. Auch bei Sportlern. Nehmen Sie Norton Benfield, den Olympiasieger im ...«
    »Ich weiß«, sagte David.
    »... gesunde Ernährung. Bewegung, kein Rauchen, keinen Alkohol. Eine Kur vielleicht. Und vor allem ...«
    »Ich weiß.«
    »... abnehmen. Unbedingt! Wissen Sie, um das Herz herum sind kleine Äderchen. Und wenn das Blut nicht kräftig fließt, weil dort zuviel Fett ist, dann kann es eine Verstopfung geben, einen ...«
    »... Thrombus der Koronararterien. Ich weiß das!«
    »Fein«, sagte der Arzt ärgerlich, »um so besser.« Er stellte eine Dose auf den Nachttisch. »Nitroglyzerinspray. Gefäßerweiternd. Sollten Sie ab jetzt immer dabei haben.« Er nickte befriedigt, ging hinaus, ließ die Tür hinter sich zufallen und kam nicht zurück.
    Als David aus dem Krankenhaus entlassen war, fuhr er tatsächlich zur Kur: Eine Eisenbahnreise von mehreren Stunden brachte ihn in eine grüne, leicht gewellte, nicht sehr interessante

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