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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Auszeichnung. Unordnung, fragte er im Vorwort – was heißt das? Und woher die festeVerbindung von wachsender Unordnung und Zeit, eine Verbindung so unauflöslich, daß man sie vielleicht – in aller nötigen Vorsicht – das Grundgerüst der Welt nennen kann?
    Nun: Der Zustand größerer Ordnung, das ist einfach der, dessen Entstehung durch reinen Zufall weniger wahrscheinlich ist: Ein gelegtes Paket Spielkarten (nach Farben zum Beispiel und aufsteigenden Werten) ist unwahrscheinlicher als ein durchmischtes – einfach darum, weil sich beim Mischen die aufsteigende Reihe nicht von selbst herstellen wird. (Es wäre natürlich möglich, aber es wird niemals geschehen, es ist zu unwahrscheinlich. »Der Kosmos«, so Boris Valentinov in Die Textur der physischen Welt, »fügt sich nicht nur den Naturgesetzen, sondern auch jenen der Statistik. Und das ist wohl sein eigentliches Rätsel.«) Oder nehmen wir einen Glaskolben mit einer Trennwand in der Mitte: rechts ein Gas, links ein Vakuum. Wenn man die Wand wegzieht, breitet sich das Gas sofort im ganzen Innenraum des Glases aus. Es könnte auch auf seiner Seite bleiben oder zur Gänze auf die andere wechseln; beides wäre physikalisch möglich – aber zu unwahrscheinlich. (Bei n Gasmolekülen liegt die Wahrscheinlichkeit, daß es passiert bei (½) n , eher würde ein auf eine Schreibmaschine einschlagender Affe zufällig alle Bücher der Menschheit hervorbringen.) Was liegt also zwischen den beiden Zuständen, zwischendem in einer Hälfte des Raumes konzentrierten und dem im ganzen Raum verteilten Gas?
    Nur die Zeit.
    Es geschieht von selbst, der erste Zustand bringt den zweiten hervor, er muß es, er kann nicht anders. Jener muß früher, dieser später sein, einfach darum, weil er wahrscheinlicher ist. Das Anwachsen der Unordnung spannt die Zeit auf. Und bestimmt ihre Richtung. Denn diese ist nicht bloß Veränderung, sie ist vor allem gerichtete Veränderung. So kehrt keine Stunde je wieder, denn jede einzelne enthält einen neuen Zustand der Welt, und die Unordnung ist größer als jemals in der Unendlichkeit, die ihr vorausging. So gibt es immer Anfang und Ende. Entropie: der Tod, übersetzt in die Physik.
    Aber vergessen wir nicht: Das Entropiegesetz ist ein statistisches. Das Gas könnte sich ballen. Ein Eimer kaltes Wasser könnte plötzlich sieden. Die Karten könnten sich ordnen und der Affe die Summa Theologica schreiben. Was dem entgegensteht, ist die Wahrscheinlichkeit, und nur sie; aber sollten ihre Gebote wirklich so unüberwindlich sein? Und woher überhaupt diese sklavische Neigung der Natur, diese völlige Einwilligung in die Vorschrift? Warum der vorauseilende und bloß manchmal und überraschend aussetzende Gehorsam, als gäbe es eine Truppe dienender Wesen, die sich einmischen, die, wo es nötig ist, für die Durchsetzung der Regeln sorgen, sie vor Entdeckung bewahren, das Fortschreiten der Zeit überwachen und die Unausweichlichkeit des Todes? Oder anders formuliert ...
    »Ja«, sagte Katja, »fein. Das ist alles interessant. Aber jetzt genügt es!«
    David schwieg erschrocken und wurde rot. Er holte ein Papiertaschentuch hervor, entfaltete es umständlich und putzte sich mit einem tiefen, prustenden Geräusch die Nase
    »Entschuldige!« sagte er. Und sah sie mit seinen fast farblosen Augen an. Sie schienen immer ein wenig feucht, und sie waren umgeben von überlangen, sehr feinen Wimpern.
    »Schon gut«, sagte sie. »Es war ja ... sehr interessant. Ist schon gut.«
    Sie unterrichtete lateinische Grammatik. Sie war groß, hatte schwarze Haare und ein von unterdrückter Nervosität gerötetes Gesicht. Sie lackierte ihre Nägel in hellen Rottönen, um die vom Kauen häßlichen Ränder zu verbergen; vergeblich, man sah sie trotzdem. Außerdem rauchte sie zuviel, saugte gierig die warme, scharf schmeckende Hitze ein, ließ den zu Wirbeln verschwimmenden Rauch einen Schleier vor ihr Gesicht legen. Im Unterricht bemühte sie sich, ihren Studenten stets um etwa drei Stunden voraus zu sein; ihr Leben bestand immer mehr darin, Situationen zu vermeiden, in denen sich schlechtes Latein verraten konnte.
    Oft hatte sie oft plötzliche und unbegründete Anfälle von Mitleid: Ein winselnder Hund oder ein weinendes Kind trieben ihr Tränen in die Augen, aggressive Bettler in der U-Bahn bekamen von ihr viel zu viel Geld, eine durchs Zimmer laufende Spinne (als wäre ein Stück des Teppichmusters lebendig geworden) durfte man nicht zertreten, sondern mußte sie

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