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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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fangen, an einem Bein nehmen und ins Freie tragen. David konnte nie den Verdacht loswerden, daß auch er ein Gegenstand war, den sich ihre sinnlose Fürsorglichkeit erwählt hatte, geeignet – wie Hund, Kind, Bettler, Spinne – für ihre zärtliche, nervöse Sentimentalität. Sie kochte für ihn – mittelmäßig –, sie gingen spazieren, sie hörte sich, leicht geistesabwesend, seine Vorträge an, und manchmal legte sie ihre Hand auf seinen Arm, und er wußte, daß er diese Hand nur fassen und festhalten mußte und daß sich ihm dann ihr Gesicht nähern würde, und dann brauchte er nur noch seine Arme um ihre Schultern zu legen, und schließlich würden ihre Lippen die seinen berühren, warm und etwas feucht ... Aber er tat es nicht. Er sah sie vor sich: Die langen Nächte, in denen sie neben ihm atmen und manchmal im Schlaf sprechen würde, die Abende in billigen Restaurants, ihr Schminkzeug in seinem Badezimmer, gemeinsame Ferien in hügeligen Landschaften und an überfüllten Stränden. Manchmal, in seinen Träumen, wenn die Erscheinungen seiner Schwester fernbliebenund die Angst ihn verschonte, sah er Katja vor sich. Sah ihren Leib, bekleidet oder nackt, spürte seine Wärme, fühlte, wie sein eigener Körper, wie von selbst, darauf reagierte ... Er mochte diese Träume nicht. Es waren Eindringlinge in seinen Geist, nicht gerufen, alles durcheinanderbringend, profan, albern und lästig. Am besten, entschied er, man ignorierte sie. Und seltsamerweise funktionierte das. Nach einer Weile wurden sie seltener. Und dann blieben sie fast aus.
    Nach seiner Dissertation hatte ihm Professor Wohllob, Inhaber des Lehrstuhls für Theoretische Physik, eine Assistentenstelle angeboten. Seither mußte er dreimal in der Woche vor einem Saal gähnender, kritzelnder Studenten Einführungen in Thermodynamik, Atomphysik, Grundzüge der Quantentheorie und einmal in der Woche, abwechselnd mit seinem Kollegen Mohr, das Seminar für die Fortgeschrittenen halten und am Ende des Semesters Stöße von Prüfungsarbeiten korrigieren, unter die Wohllob dann nur noch seine schiefe Unterschrift setzte.
    »Ich hätte gerne«, sagte Wohllob, »daß Sie zum Kongreß nächstes Jahr mitkommen. Und daß Sie einen Vortrag halten. Sie müssen was für Ihre Karriere tun, mein Lieber!«
    »Aber nein«, David fühlte, wie ihm heiß wurde, »ich kann das nicht!«
    »Ich möchte darüber nicht diskutieren. Sie machendas. Keine Angst, niemand tut Ihnen etwas.«
    »Sie verstehen nicht ...«
    »Ich möchte«, wiederholte Wohllob, »darüber nicht diskutieren.«
    David arbeitete ein halbes Jahr an seinem Vortrag. Vielleicht sollte es so sein, vielleicht war das die richtige Gelegenheit, um zu zeigen, was er herausgefunden hatte. Selbst Valentinov würde da sein! So saß er bis in die Nacht an seinem Schreibtisch, vor dem matten Glimmen des Monitors, das sich mit der Zeit fest auf seine schmerzenden Augen legte, und tippte mit vom Kaffee zitternden Händen, bloß um das, was er geschrieben hatte, nicht gut, nicht klar genug zu finden und es wieder zu löschen und von vorne zu beginnen und endlich aufzusehen, todmüde, und zu bemerken, daß schon das erste Tageslicht durch das Fenster fiel und die Nacht vorbei war und für über zwölf Stunden keine Möglichkeit mehr zu schlafen.
    »Ich dachte«, sagte Marcel, »du willst dich verstecken!«
    »Aber das könnte der richtige Moment sein. Ich werde ihnen alles sagen, was ich weiß.«
    Sein Computer stürzte immer häufiger ab: Plötzlich verschwand das Bild, wie eingesogen vom summenden Inneren des Gerätes, und nur ein weißes Flackern blieb zurück. Er gewöhnte sich daran, mit der Hand zu schreiben. Betrachtete die karierten, mit Schriftzügen überzogenen Blätter(die Formeln sahen, wenn man die Augen zukniff, wie vielbeinige Tierchen aus) und stellte sich vor, wie er das Podium besteigen, sich räuspern und, ohne aufzusehen, beginnen würde zu sprechen. Irgendwann würde er den Blick heben und den vielen Augen begegnen, Reihe um Reihe, unter Glatzen und spärlich behaarten, nicht ganz runden Köpfen, und es würde, bis auf seine Stimme, verstärkt durch Mikrofon und Lautsprecher, sehr still sein ... Er malte es sich so deutlich aus, daß er verblüfft war, als es plötzlich – geschah. Und er sich vor dem Saal fand, dem stummen, vieläugigen, und Menschen ihn ansahen, so viele davon, und darauf warteten, daß er sprach. Seine Notizen lagen vor ihm. Er heftete den Blick darauf und bemühte sich, seine

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