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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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mit sich. Die Sonne war fast schon untergegangen, ihr letztes Licht schien auf Katjas Gesicht zu flackern.
    Sie schüttelte den Kopf. »Du bist übermüdet, David, und ich habe das nicht gehört. Nichts davon. Kein Wort.«
    »Also, du glaubst mir nicht?«
    »Bitte geh schlafen! Du bist ja in einem furchtbaren Zustand.«
    »So?« Er musterte sie mit einem zerstreuten, beinahe feindseligen Ausdruck. »Das wußte ich nicht. Eigentlich fühle ich mich nicht schlecht. Entschuldige.«
    »Schon gut.« Sie hatte sich abgewandt und versuchte mit hastigen, zu hastigen Bewegungen, eine Zigarette anzuzünden: Das Streichholz brach ab, fiel brennend, eine kleine gelbe Flamme, auf den Teppich; sie trat schnell darauf. Das Telefon läutete. David stand auf und hob ab.
    Zuerst erkannte er die Stimme nicht. »Valentinovs Adresse«, rief Mohr, »habe ich jetzt doch bekommen, du schuldest mir was. Ich will gar nichtwissen, was du damit vorhast. Schreibst du mit? Ach ja, das hast du noch gar nicht gehört: Der alte Idiot ist im Krankenhaus, starke Schmerzen irgendwo im Magen, auch eine Art Schock, etwas Genaues weiß noch keiner. Scheint ziemlich schlimm zu sein. Und weil du nicht da warst, um was dagegen zu tun, haben wir dir die Vertretung für sein Seminar zugeschoben; tut mir leid, so läuft das. Ach ja, die Adresse! Also, schreibst du ...?«
    David notierte die Adresse und legte auf. Er blickte um sich und erschrak; für einen Moment hatte er vergessen, daß noch jemand im Zimmer war.
    Katja stand an der Tür. Sie hatte ihren Mantel angezogen, ihre Hand lag auf der Klinke.
    »Warte noch«, sagte er, »bitte.«
    »Nein, David. Ich komme morgen wieder.«
    »Morgen bin ich nicht mehr da.«
    Katja blickte ihn an, für einen Augenblick schien sie zu zögern; dann wandte sie sich ab, öffnete die Tür, knickte auf ihrem Absatz um, fand das Gleichgewicht wieder und ging hinaus. Ihre Schritte hallten durch den Gang, entfernten sich, wurden leiser, als sie die Treppe hinunterstieg, verstummten. Ein paar Sekunden später hörte er das Krachen der Haustür. Dann tauchte sie unter dem Fenster auf, sah nach rechts, sah nach links, überquerte die Straße. Als sie auf der anderen Seite war, drehte sie den Kopf, bis ihr Blick sein Fenster erreichthatte; sie strich ihre Haare zurück (eine winzige Klammer löste sich, fiel auf den Boden, sprang weg und blieb auf der Straße liegen), ging an dem Polizisten vorbei, der noch immer seine Mütze putzte, kurz aufhörte und ihr nachsah, ging schneller, so daß ihr Mantel sich im Wind bauschte, bog um die Ecke und war nicht mehr zu sehen.
    Der Hubschrauber zog langsam über den Horizont. Mit einem Klicken schalteten sich die Straßenlaternen ein und legten ein Glänzen auf die Dämmerung. Auf dem Teppich war ein kleiner Brandfleck neben dem gekrümmten Rest eines Streichholzes.
    David sah sich um. Die Wohnungstür stand noch offen. Von der Wand draußen war der Putz abgebröckelt, und das steinerne Gewebe der Ziegel entblößte sich; ein seltsam abstoßender Anblick. Er schlug die Tür zu, drehte zweimal den Schlüssel um und ließ die Kette einrasten. Er schaltete das Licht ein; die Dämmerung wurde zu flacher Dunkelheit. Er setzte sich auf das Bett.
    Hatte sich die Tür bewegt? Nein, natürlich nicht, das war unmöglich. Oder – er war schon eingeschlafen. Er dachte nach und entschied, in merkwürdiger Klarheit, daß das der Fall sein, daß er bereits schlafen mußte. Denn jetzt ging die Tür, unbehindert von Schloß und Kette, auf. Und seine Schwester kam herein.
    Er riß die Augen auf. Wirklich, er lag schon aufdem Bett, in Kleidern, sogar mit Schuhen. Und die Tür war verschlossen, und die Deckenlampe strahlte gelb und fahl. Er schloß die Augen.
    Die Tür war offen, und seine Schwester sah ihn an, sah zumindest in seine Richtung, denn ihre Augen fixierten nichts. Sie begann, mit beiden Händen Zeichen zu geben. Sie zeigte auf das Fenster und machte schnelle, kurze Handbewegungen. Sie schüttelte den Kopf.
    Er öffnete die Augen. Er spürte sein Herz: ein schwacher, aber merklicher Schmerz. Er griff nach der Spraydose. Sie fühlte sich kalt an, und das hatte etwas Beruhigendes. Sein Blick wanderte durch das leere Zimmer. Er schloß die Augen.
    Sie bewegte die Lippen. Bemühte sich, Laute hervorzubringen, aber es gelang nicht, war aus irgendeinem Grund nicht möglich. Sie hob ein Bein und balancierte auf dem anderen. Dann begann sie zu hüpfen, auf und ab, wie ein Kind, und das (plötzlich fiel es

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