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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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ihm ein) war sie doch auch; ein Kind mit durchschnittenem Hals, das ihm unbedingt etwas sagen wollte. Er sah noch, wie sie die Arme ausstreckte und ein Rad schlug, quer durch das Zimmer, von der offenen Tür zum Fenster; er wollte sich aufrichten, um sie besser zu sehen, aber das war ein Fehler: die Bewegung seines Körpers zerstörte etwas; seine Augen öffneten sich wie von selbst, und die Tür war verschlossen, und er war allein.
    Dort, wo sein Herz war, spürte er einen stumpfenDruck, wie von einem schweren Gegenstand. Er führte die Spraydose zum Mund, drückte auf den Sprühknopf und atmete ein. Dann stand er auf.
    Er nahm den Telefonhörer und wählte. Nach einigen Sekunden hob jemand ab. »Ja?«
    »Katja, ich bin das. Entschuldige die Frage, sie wird dir vielleicht seltsam vorkommen! Warst du vorhin hier?«
    »David, was soll das?«
    »Bitte antworte! Ich hatte gerade einen Traum, und ich weiß nicht genau, wann er begonnen hat. Wir hatten ein seltsames Gespräch, du und ich, und ich habe ein paar Dinge gesagt ... Warst du hier?«
    »Du solltest wirklich schlafen. Es ist ziemlich spät und ... Geh schlafen!«
    »Warte!« rief er. »Ich will nur wissen ...«
    »Gute Nacht!«
    Sie hatte aufgelegt. Er stand eine Weile da und hörte dem Besetztzeichen zu. Auf dem Fußboden war nichts zu sehen: weder ein Streichholz, noch ein Fleck. Er streckte langsam die Hand aus, drückte auf die Gabel und wählte eine andere Nummer.
    »Marcel«, sagte er, »es tut mir leid, aber das ist ein Notfall. Nimm dein Auto und komm her! Ich erkläre es dir unterwegs. Komm sofort her!«

XI
    Die weißen Linien auf der Straßenmitte schnellten aus der Dunkelheit, dehnten sich, verschwanden unter der Motorhaube. Außer ihnen und den Pfosten rechts von der Straße und einer kleinen Fläche grauen Asphalts im Scheinwerferkegel und von Zeit zu Zeit den Lichtern eines anderen Autos war nichts zu sehen. Keine Sterne am Himmel; und die Bäume am Straßenrand verschmolzen zu einer Wand vorbeifliegender Schatten.
    »Siebentausend«, sagte David.
    »Was?«
    »Der siebentausendste Pfosten. Sie haben immer dreiunddreißig Meter Abstand. Eigentlich dreiunddreißig Komma drei. Das heißt, daß wir etwas mehr als zweihundertdreißig Kilometer gefahren sind.«
    »Bitte«, sagte Marcel, »halt den Mund!« Er hielt das Lenkrad mit drei Fingern der linken Hand fest. Seine Haare waren nicht gekämmt, zwei Knöpfe an seinem Hemd standen offen, sein Gesicht sah grau und unrasiert aus.
    »Fahr nicht so schnell!« sagte David.
    »So!« rief Marcel und trat auf die Bremse. »Jetzt reicht es! Du rufst mich mitten in der Nacht an und sagst, es geht um etwas Wichtiges und ich soll dich sofort abholen, weil du unbedingt jemanden besuchen mußt. Entweder du sagst mir sofort, was dassoll, oder du gehst zu Fuß!« Er steuerte an den Straßenrand und hielt.
    »Wir fahren«, sagte David langsam, »zu Boris Valentinov.«
    Marcel schwieg. Er warf David einen langen Blick zu. Dann fuhr er wieder an. Die Pfosten neben ihnen setzten sich in Bewegung, wurden schneller, legten sich in eine, dann noch eine Kurve.
    »Das ist dein Ernst«, sagte Marcel, »nicht wahr? Du meinst wirklich, daß dich jemand verfolgt?«
    »Ja.«
    »Und du erwartest, daß ich das glaube?«
    »Ehrlich gesagt, das ist mir egal.«
    Für eine Weile schwiegen sie. David hatte die Augen geschlossen und atmete gleichmäßig, als wäre er eingeschlafen. Marcel starrte auf die Straße.
    »Daß Grauwald im Krankenhaus liegt«, sagte David plötzlich, »nur ein paar Stunden, nachdem ich mit ihm gesprochen habe, und daß er sterben wird, hältst du das für Zufall?«
    »Sicher.«
    »Und den Tankwagenunfall? Und den Toten im Park? Die auch?«
    »Was soll das damit zu tun haben?«
    Ein Auto kam ihnen entgegen, ohne abzublenden: Zwei Lichtkreise wuchsen, die Helligkeit nahm ihnen die Sicht; Marcel trat auf die Bremse; David schrie auf. Das Auto blendete ab, fuhr vorbei, verschwand im Dunkel des Rückspiegels.
    »Ganz ruhig!« sagte Marcel. »Was ist denn mit deinen Nerven los? Dieser Valentinov, weiß er eigentlich, daß wir kommen? Hast du ihn angerufen?«
    »Nein. Er würde nicht mit mir reden. Man kommt schwer an ihn heran.«
    »Du willst ihn einfach überfallen?«
    »Das muß ich. Ich muß ihn zwingen, mir zuzuhören. Wenn er mich versteht, dann wissen es schon zwei.« Er sah Marcel an, seine Augen glänzten schwach. »Und ihm würde man glauben.«
    Über eine ansteigende Kurve kamen sie auf die Autobahn. Vor

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