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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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sehr reale Weise, bitte verstehen Sie das nicht ... metaphorisch ... verfolgt wird. Verfolgt und ...« Er strich über sein Kinn, seinen Hals, unterdrückte einen Hustenanfall; absichtslos und zu seinem eigenen Schrecken hatte seine Hand sich auf sein Herz gelegt, er zog sie schnell zurück und steckte sie in die Tasche. Etwas flatterte auf das Fenster zu, er zuckte zusammen, aber es war nur eine Taube. Jemand lachte auf.
    »Wenn zum Beispiel«, sagte eine Stimme, und es war seine eigene, bloß klang sie anders als gewohnt, »jemand entdeckt hätte, was die Zeit ist und wie ... ihr vielleicht zu entkommen wäre ... Bitte nehmen Sie das als ein ganz willkürliches Beispiel! Dann würde er sich zu Beginn wohl sehr freuen, die Schönheit seiner Entdeckung, ihre Größe würde ihn ... Aber langsam würde er merken, daß er in Gefahr ist. Vielleicht würde er auch in seinem Leben etwas entdecken, was immer da war, aber erstjetzt sichtbar wird, ein Muster von ... von Versuchen, ihn abzuhalten. Von Versuchen, ihn zu ...« Er stockte. Er wußte nicht mehr, wohin er schauen sollte; auch das Hochhaus war zu einem unerträglichen Anblick geworden. Er spürte die achtundneunzig auf ihn gerichteten Augen. Und die zwei Augen der Taube, wie schwarze Nadelköpfe, jetzt verdeckt von winzigen Lidern, jetzt wieder sichtbar. Sie pickte nach etwas. Ihre Federn sahen zerzaust und schmutzig aus. Er trat auf die Fensterscheibe zu. Da sprang sie ins Leere.
    Er sah ihr nach. Sie fiel. Fiel und öffnete spät erst, als hätte sie gezögert, ihre Flügel. Zog eine Kurve, gespiegelt im roten Dach eines Autos, fing ihren Sturz ab, lag auf dem Wind, machte ein paar Flügelschläge und landete neben dem Auto auf dem Asphalt, unter den anderen Vögeln. Und war schon einer von ihnen; nicht mehr zu unterscheiden.
    »Herr Doktor«, sagte eine Stimme. Eine klare, angenehme Frauenstimme von irgendwo aus der Mitte des Saales.
    »Ja?«
    »Was reden Sie da?«
    David spürte, wie er rot wurde. Er stand regungslos. Sein Blick lief die Sitzreihen entlang, aber er konnte sie nicht finden, er wußte nicht, wer diese Frage gestellt hatte. Von einigen Stellen des Raumes hörte er Kichern.
    Er räusperte sich, um zu antworten. Um irgend etwas zu antworten. Auf einmal, ganz grundlos, fiel ihm die Taube ein. Sie war nicht in die Höhe gestiegen; im Gegenteil. Denn so machten sie es immer: flogen nicht auf, sondern ließen sich fallen, ließen den Sturz in den Flug übergehen, so daß man nicht sagen konnte, wo das eine endete und das andere begann. Natürlich, sie mußten Kraft sparen. Es war sehr mühsam für sie, und auch gefährlich. Selbst sie hatten einen Körper zu tragen, auch er war Stoff und umfangen von Schwere. Und ihre Leichtigkeit: ein Sieg über feindselige Kräfte, erschlichen durch List. Nur durch List.
    Jemand lachte. Eine Studentin warf ihre Haare zurück; ein blondes Aufleuchten. Ein Kugelschreiber, zu Boden gefallen, rollte an den Sitzreihen vorbei, abwärts, auf das Pult, auf David zu. Er wich zurück. Das Lachen wurde lauter. David öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Dort war die Tür. Die schmale Tür, ein Rechteck in der Wand, und man konnte es öffnen und konnte ...
    Er sah auf seine Armbanduhr. Ihm schien, daß er sie ticken hörte, ganz deutlich, trotz all dem Lärm. Die Klarheit dieser einen Nacht ... Und wie verunreinigt alles schon war, beschmutzt durch Lachen und Zweifel und Gleichgültigkeit; gefährdet durch das, was auf ihn zukam, was sich näherte, was Leben auslöschte und in den Abgrund der Vergangenheit zog, der unendlichen, vergessenen Zeithinter jedem Moment. Einige Sekunden, einige kleine, deutliche Tickgeräusche seiner Uhr lang, hielt er noch aus. Das Lachen umspülte ihn, ihre lächelnden Gesichter errichteten sich vor ihm wie eine Wand. Noch eine, noch zwei Sekunden ...
    Dann ging er hinaus.
    Ohne sich umzudrehen. Wieder den Gang entlang, den leeren, leicht verzerrten Gang. Dort: Grauwalds Tür. Aus einem plötzlichen Impuls blieb er stehen. Und öffnete.
    Grauwald kniete auf dem Teppich und sammelte Büroklammern auf. Er atmete schwer, sein Rücken war gekrümmt, sein weißhaariger Kopf schien etwas schief auf seinem Hals zu sitzen.
    »Mahler«, sagte er, »schon wieder! Daß Sie sich noch einmal ...«
    David sah ihn an. Grauwald versuchte aufzustehen: Er beugte sich vor, drückte sich mit den Händen vom Boden weg; aber plötzlich verließ ihn die Kraft. Seine Arme knickten ein, und er fiel, mit einem leisen,

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