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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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ihnen, ein paar hundert Meter entfernt, waren die Lichter eines anderen Autos. Marcel beschleunigte sofort.
    »Ich habe einmal eine Geschichte geschrieben«, sagte er, »über einen Mann, der ständig angerufen wird. Und zwar von jemandem, den er nicht kennt und der auch nichts mit ihm zu tun hat und auch überhaupt nicht mit ihm reden will. Aber immer wieder ...«
    »Du wolltest doch nicht mehr schreiben!«
    »Nein.« Marcel zögerte. »Wollte ich nicht. Habe ich auch nicht. Ich habe es mir nur vorgestellt. Ich hätte es schreiben können. Vergiß es!« Er trat auf das Gaspedal; die Beschleunigung drückte sie in die Sitze. Neben ihnen richteten sich weiße Lärmschutzwände auf.
    »Einen zweiten Teil von Abenteuer? «
    »Unsinn! Der erste war schon zuviel. Zum Teufel, vergiß es!« Das Auto vor ihnen kam näher; Marcel blinkte, wechselte die Spur, überholte. Einen Moment lang tauchte neben David der Fahrer des anderen Autos auf; er war allein im Wagen, aber er bewegte die Lippen, als würde er mit ihnen sprechen. Dann waren sie schon vorbei.
    »Seltsam«, sagte David. »Hast du gesehen ...?«
    »Hör auf, alles auf dich zu beziehen! Und frag mich nie wieder nach dem zweiten Teil. Es wird ihn nicht geben. Dieser Ehrgeiz überall, dieser Kampf, dieser Gestank nach Ehrgeiz! Man sollte rechtzeitig aufgeben. Darauf kommt alles an: rechtzeitig aufzugeben. Du mit deiner Theorie! Selbst wenn sie stimmt, was soll das! Jemand setzt sich hin und grübelt zehn Jahre an irgend etwas, damit er einen Nobelpreis kriegt oder besser bei den Frauen ankommt. Ist dir schon aufgefallen, wie verlogen jedes Buch allein dadurch wird, daß jemand es veröffentlicht hat?«
    Wieder ein Hubschrauber. Er sank, wuchs: näherte sich. Jetzt war schon das Rotorblatt zu sehen. Marcel bewegte kaum das Lenkrad. Die Autobahn war völlig gerade, es war kein anderes Auto zu sehen, nirgendwo.
    »Würdest du bitte nicht einschlafen!« rief Marcel. »Sprich mit mir! Sonst schlafe ich ein. Hörst du?«
    David antwortete nicht. Seine Brust hob undsenkte sich gleichmäßig. Marcel streckte eine Hand nach ihm aus, zögerte, zog die Hand zurück. Er schaltete das Radio ein: Aus den Lautsprechern flossen die leisen, schnellen Anschläge eines Klaviers. Marcel seufzte. Er sah auf die Autobahn, die Schutzwände, die Markierungen, die immer neuen Linien ...
    Auch David hörte die Musik. Er versuchte, ihr zu folgen, und irgendwie gelang ihm das, und sie blieb auf eine schwebende Art in seinem Schlaf gegenwärtig. Die Töne, das bemerkte er, standen in deutlich hörbaren Zahlenverhältnissen: manche waren miteinander verwandt, andere einander fremd, zwischen einigen bestand Abneigung, eine arithmetische Art von Feindschaft. Es schien die geordnete Zeit selbst zu sein, die (und das hatte auch mit den Pfosten zu tun, die irgendwo da draußen noch liefen und noch liefen und liefen) immer neu umspielt wurde; Verbindung von Zahl und Zeit; Akkorde, die verschwanden, aber sie kehrten wieder, kehrten alle wieder.
    Und dann sah er sich ihr gegenüber. Wieder ihr. Sie blickte ihn an. Stand vor ihm, den Kopf leicht geneigt, ausdruckslos. Und David wußte, war gänzlich erfüllt von der Gewißheit, daß es keine Erinnerung war, keine Vorstellung, kein Zurückrufen ihrer blassen, schnell verschwundenen Erscheinung, wie es in Träumen üblich ist, sondern daß sie es wirklich war. Daß sie vor ihm stand, inihrem echten, kindlichen, durch die Fremdheit eines anderen Daseins gegangenen Wesens. Jünger als er. Und doch kannte sie, was keiner kannte, was das Fremdeste war, was zu kennen ihr den Mund verschloß; denn es war undenkbar, daß sie zu ihm davon sprach. Und wenn sie es doch tat, mußte er es vergessen; und das hatte er auch, jede Nacht wieder, ein Leben lang. Woher kam die Klaviermusik? Er wollte auf sie zugehen. Die Luft schillerte um ihn, Farben glänzten auf, vermischten sich, erstarrten, als wollten sie ihn festhalten. Und hielten ihn. Er konnte sich ihr nicht nähern. Und die Akkorde und das Ticken der Uhr und die dahinlaufenden, dahinlaufenden Pfosten, aus der Nacht, in die Nacht. Sie sah so traurig aus. Es war kein guter Ort. Vielleicht war es bloß das, was sie ihm sagen wollte: Daß man dort nicht sein sollte. Und die Pfosten, und die Musik. Sie lächelte nicht. Und auf einmal wußte er, daß sie dort auf ihn wartete, die ganze Zeit, all die Jahre, und daß er bald schon ...
    »So!« rief Marcel. »Wach auf!«
    David blinzelte. Das Lenkrad, das Armaturenbrett, ein

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