Mahlers Zeit
Aufkleber an der Scheibe. Der Geruch der Ledersitze. Er war wach.
»Wir sind da. Du hast fast zwei Stunden geschlafen! Übrigens eine Gemeinheit, nicht wahr?«
Sie parkten am Rand einer Straße, die schmutzig aussah, dunkel und groß zwischen riesigen Häusern, in denen nur noch ein paar Fenster erleuchtet waren. In der Ferne donnerte es. David sah auf die Uhr: Es war kurz nach drei. Er öffnete die Autotür und stieg aus.
Am Eingangstor waren eine Sprechanlage und ein Brett mit Klingelknöpfen. Neben dem obersten stand in schmaler Schrift Valentinov. David starrte das Schild an: Er wohnte hier. An diesem Ort, in Fleisch und Blut, in der Materie, wie jeder andere Mensch. David berührte den Kopf und überlegte einen Moment. Dann drückte er darauf.
Nichts geschah. Es donnerte wieder. David läutete noch einmal.
Es klickte; der Lautsprecher hatte sich eingeschaltet. Und dann sagte eine Stimme, erstaunlich gut zu verstehen, über einem elektrischen Summen: »Ja?«
»Könnte ich hinaufkommen? Mein Name ist Mahler. Ich muß zu Professor Valentinov.«
Der Lautsprecher summte. Sie sahen einander an. Der Lautsprecher summte. Marcel schob David weg und beugte sich zum Mikrofon: »Haben Sie ein Auto?«
»Was?«
»Können wir hinaufkommen? Es geht um Ihr Auto.«
Das Summen hörte auf. Und dann, mit einem Klicken, öffnete sich die Türverriegelung. »Siehst du«, sagte Marcel, »das geht immer.«
Der Aufzug mußte sehr alt sein. Die Tür schloß nicht richtig, und er bewegte sich langsam und, als müßte er immer wieder Kräfte sammeln, in kleinen, quietschenden Stößen. Die Kabine hielt, und sie traten hinaus. Es war das oberste Stockwerk, und es gab hier nur eine Tür.
»Wenn er aufmacht«, sagte Marcel, »dann sprichst du! Ich habe nichts damit zu tun. Wenn er die Polizei ruft, kenne ich dich nicht. Verstanden?«
Die Tür öffnete sich. Vor ihnen stand eine kleine, alte Frau in einem Kittel. Sie schien keinen Hals zu haben, ihr Kopf saß rund und faltig auf ihren Schultern. Ihre Füße waren nackt und steckten in braunen Sandalen.
»Ich möchte zu ihm«, sagte David.
»Er ist nicht hier.«
»Es ist wichtig!«
»Er ist nicht hier.«
Marcel trat vor. »Wir sollten das erklären. Frau Valentonov?«
»Ich bin die Haushälterin.«
»Wir müssen dringend, wirklich dringend, mit Professor Valentonov ...«
»Valentinov«, sagte David.
»... Professor Valentinov sprechen. Es geht um Ergebnisse, die sehr wichtig für ihn sind. Wenn er nicht hier ist, könnten Sie uns vielleicht die Telefonnummer geben, unter der ...«
»Nein«, sagte sie leise, »nein, nein. Nein.« Siewich zurück und wollte die Tür schließen. David stellte einen Fuß auf die Schwelle.
»Mach das nicht!« rief Marcel.
»Hören Sie!« sagte David. »Ich muß zu ihm! Es ist wichtiger, als Sie sich vorstellen können!«
Einen Augenblick lang sah sie mit offenem Mund, verständnislos, aber ohne Erstaunen, zu ihm auf. – »Gut«, sagte sie plötzlich. »Gut.« Sie ging langsam rückwärts in den Flur. David stieß die Tür auf und folgte ihr.
»Aber es steht doch in der Zeitung.«
»Was?«
»Er hält eine Rede. Bei ... Bei einem ... Kon ...«
»Einem Kongreß?«
»Ja, ja. Ein Kongreß.« Sie sah Marcel an. »Gehen Sie jetzt weg?«
»Noch nicht gleich«, sagte Marcel. »Wo ist dieser Kongreß?«
Sie starrte David an, dann Marcel, dann wieder David. Im Flur hing ein Spiegel über einem Tisch mit einem Telefon; neben dem Telefon lagen Zeitungen und verschlossene Briefkuverts, ungeöffnete Post. An der Wand gegenüber hing ein zweiter Spiegel in gleicher Größe, in dem gleichen metallisch glänzenden Rahmen.
»Wo?« wiederholte sie. »Wo? Wo?« Sie drehte sich um, ging zu dem Tisch und griff nach einer der Zeitungen. Als sie zwischen die Spiegel trat, wurdeihre Gestalt ins Unendliche vervielfacht: Tausende nebeneinander aufgereihte, uralte Frauen nahmen vor einem bleichen, gläsern farblosen Hintergrund Tausende Exemplare der gleichen Zeitung. Sie zögerte, als wollte sie den Moment verlängern; dann trat sie aus den Spiegeln, wurde wieder zu einer, einer einzigen, und ging auf David zu und streckte ihm die Zeitung hin. Er bemerkte, daß ihre Hand zitterte.
»Seite vier«, sagte sie.
David schlug die Zeitung auf. Am Rand von Seite vier war ein schmaler Artikel unter der Überschrift: Technologiegespräche. Er begann hastig zu lesen. Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Politik und ... reden über die Zukunft von ... und die
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