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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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euklidischen Volumen zusammenballte. Der Zeitstrahl verlief durch ihre Mitte wie eine Wirbelsäule. An den Stellen, wo die Wolke am dichtesten war, vervielfältigten sich die Gerüchte über Lenie Clarke zu einer wilden Mischung aus Hörensagen und Widersprüchlichkeiten. Wo sie schmaler wurde, waren die Geschichten weniger facettenreich und konsistenter.
    Achilles Desjardins hatte seine Karriere darauf aufgebaut, Muster in Wolken zu erkennen. Was er jetzt erblickte, war jedoch etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte.
    Gerüchte besaßen ihre eigene klassische Epidemiologie. Den Keim bildete dabei stets ein bestimmtes Ereignis. Von diesem Punkt breitete sich die Information aus, mutierte und betrieb Inzucht – eine kegelförmige Masse von Threads, die sich vom Scheitelpunkt ihres gemeinsamen Ursprungs aus in die Zukunft fortsetzten. Irgendwann begannen die Threads allerdings zu verkümmern und starben ab. Der Kegel löste sich schließlich vom abgeflachten Ende her auf, seine Permutation wurde immer schwächer und war schließlich ganz erschöpft.
    Natürlich gab es Ausnahmen. Hin und wieder überlebte ein einzelner Thread, wurde stark und knorrig und ließ sich nicht mehr ausrotten: Verschwörungstheorien und urbane Legenden; Gassenhauer, die sich festsetzten; die trostspendenden Osterhasen-Lügen religiöser Lehren. Das waren die Meme: virale Konzepte, ansteckendes Gedankengut. Manche flackerten auf und erstarben wieder wie Eintagsfliegen. Andere hielten sich tausend Jahre und länger und brachten unablässig Milliarden Menschen dazu, parasitische Halbwahrheiten weiterzugeben.
    Auch Lenie Clarke war ein Mem, aber eines, das sich von den anderen unterschied. Soweit Desjardins feststellen konnte, war es nicht Stück für Stück aus einer bestimmten Quelle hervorgegangen. Es war einfach überall in der Datenlandschaft aufgetaucht und trug tausend verschiedene Gesichter. Es hatte keine stete Divergenz der Daten gegeben, kein monotones Verzweigen von Informationsvarianten. Die Varianten hatten sich so rasch vervielfältigt, dass man sie nicht auf einen einzelnen Punkt hätte zurückführen können.
    Und seit dem ersten Auftauchen des Mems hatte sich die Bandbreite fortwährend reduziert …
    Vor zwei Monaten war Lenie Clarke noch eine KI gewesen, eine Terroristin in der Flüchtlingszone, eine Prophetin und Prostituierte und andere unmögliche Dinge – viel zu zahlreich, als dass man sie alle hätte aufzählen können. Inzwischen war sie nur noch eines: die Meerjungfrau der Apokalypse. Natürlich gab es immer noch ein paar Abweichungen. Trug sie Nanotechpartikel in sich, die Feuer auslösen konnten? Eine im Labor gezüchtete Seuche oder irgendeine apokalyptische Mikrobe aus der Tiefsee? Die Unterschiede bestanden lediglich im Detail. Doch die Wahrheit dahinter war konvergiert. Der klassische Kegel war um 180° gekippt worden – was natürlich vollkommen unmöglich war –, und die tausend Gesichter der Lenie Clarke hatten sich in ein einziges verwandelt. Nun war sie nur noch die Vorbotin des Weltuntergangs.
    Es wirkte beinahe, als hätte jemand oder etwas der Welt unzählige Varianten derselben Geschichte angeboten, und die Welt hätte sich dann für die entschieden, die ihr am besten gefiel. Dabei ging es nicht um den Wahrheitsgehalt, sondern lediglich um die Resonanz.
    Und das Mem, das Lenie Clarke als einen Engel der Apokalypse darstellte, war nicht etwa deshalb so erfolgreich, weil es wahr war, sondern weil die Menschen verrückterweise wollten , dass es wahr war.
    Das kann ich nicht glauben , schrie Achilles Desjardins in Gedanken.
    Doch nur ein Teil von ihm hörte zu. Der andere Teil, auch wenn er Chomsky, Jung oder Sheldrake nicht gelesen hatte – und wer hatte schon Zeit, sich mit Toten zu befassen? –, verfügte zumindest über ein grundlegendes Verständnis dessen, worüber diese Männer geschrieben hatten. EPR-Effekt, Quantenbewusstsein – Desjardins hatte zu viele Fälle des gehäuften Zusammentreffens von Umständen erlebt, als dass er die Vorstellung, dass die Gehirne von neun Milliarden Menschen irgendwie auf nicht wahrnehmbare Weise miteinander verbunden waren, vollkommen hätte verwerfen können. Er hatte nie viel darüber nachgedacht, doch in gewisser Weise hatte er seit Jahren an das Kollektive Unbewusste geglaubt.
    Ihm war nur nicht klar gewesen, dass sich das verdammte Ding mit Selbstmordgedanken trug.
     
    Dr. Desjardins, hier ist Patricia Rowan. Ich habe gerade Ihre Nachricht

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