Mahlstrom
Konsole. In seinen Inlays leuchtete eine visuelle Bestätigung auf: Er hatte einen Kanal direkt zu seinem Sehzentrum geöffnet, ohne – er warf einen Blick an die Wand, um sich zu vergewissern –, ohne dass ein Echo davon an die externe Anzeige gesendet wurde.
»Wissen Sie, ich habe nachgedacht.« Ein weiteres müßiges Trommeln auf der Konsole. Eine leuchtende Tastatur tauchte in seinem Kopf auf, die nur er sehen konnte. »Darüber, warum die Primärüberträger nicht so schnell sterben wie die Menschen in der Zone.« Sein Blick wanderte vorsichtig über die Tastatur, verharrte einen kurzen Moment hier auf einem Buchstaben und dort und dort . Buchstaben leuchteten unter seinem Blick auf und begannen einen Befehl zu formen. »Vielleicht hat sich in der Zone ein aggressiverer Stamm entwickelt.« B-e-e- »Die hohe Bevölkerungsdichte … die vielen zusätzlichen Anläufe … vielleicht hat das alles zu einer höheren Mutationsrate geführt.«
Beebe Station.
Menüs leuchteten am Rand seines Blickfeldes auf. Er konzentrierte sich auf das mit der Bezeichnung Besatzung .
Nennen-wir-ihn-Colin knurrte.
Vier Frauen, vier Männer. Desjardins rief die Männer auf. Wer immer es war, der da neben ihm stand, er hatte sich sicher nicht so stark verändert.
»Und wenn es zwei unterschiedliche Stämme gibt, stimmen vermutlich unsere Fortpflanzungsmodelle nicht mehr«, sagte er laut.
Passfotos der Mitarbeiter. Die Gesichter waren alle unbekannt. Aber die Augen …
Er blickte hoch. Nennen-wir-ihn-Colin erwiderte durch ein leuchtendes Palimpsest hindurch seinen Blick.
Diese Augen …
Das Fleisch um sie herum war rekonstruiert worden. Die Iris war dunkler. Doch die Unterschiede waren lediglich kosmetisch. Ein Makel in der Iris, der nicht korrigiert worden war, eine verräterische Kapillare, die sich über die Lederhaut hinzog. Und die Größenverhältnisse des Gesichts selbst waren identisch geblieben. Eine leichte Veränderung des Aussehens, eher eine Verkleidung als eine tatsächliche Rekonstruktion. Ein neues Gesicht, ein neues Paar Socken und …
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Kenneth Lubin.
Desjardins schluckte.
»Äh … das Koffein«, gelang es ihm herauszupressen. »Überfällt einen immer hinterrücks. Ich bin gleich wieder da.«
Er sah kaum die Korridore an sich vorbeirauschen. Die Toilette verfehlte er komplett.
Oh Gott. Er ist in meiner Wohnung gewesen, er hat mir ins Gesicht geatmet. Er hat mich sogar mit irgendetwas in den Nacken gestochen. Und er trägt wahrscheinlich jede Menge ßehemoth in sich. Womöglich wächst es beräts in diesem Augenblick in mir heran. Wahrscheinlich …
Halt die Klappe! Konzentrier dich! Du findest schon eine Lösung.
Wenn Lubin infiziert wäre, dann wäre er längst tot. Das hatte er selbst gesagt. Er war also vermutlich kein Überträger. Das war immerhin etwas.
Womöglich hatte er den Überträger aber trotzdem bei sich: Johnny Appleseed auf dem Kriegspfad, der ßehemoth in einer Petrischale mit sich herumtrug. Und wenn das tatsächlich stimmte? Warum sollte er über den gesamten Kontinent reisen, nur um ausgerechnet Achilles Desjardins zu infizieren? Wenn er Desjardins aus irgendeinem Grund umbringen wollte, hätte er es tun können, während der Gesetzesbrecher am Boden seines Wohnzimmers lag.
Auch dieser Gedanke war ein wenig beruhigend.
Wahrscheinlich war keiner von ihnen beiden infiziert. Desjardins gestattete sich einen Moment lang, Erleichterung zu verspüren, und öffnete dann die Tür zu Jovellanos' Büro.
Es war leer. Sie hatte sich den Tag freigenommen, um irgendwelche Überstunden abzubauen, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten. Achilles Desjardins dankte den Kräften der Entropie. Er konnte ihre Konsole benutzen, zumindest für ein paar Minuten. So lange, wie man glaubwürdigerweise auf der Toilette sein konnte.
Er loggte sich in sein Konto ein und überlegte:
Lubin wollte, dass er sich die Personalakten von Beebe ansah. War ihm nicht klar gewesen, dass Desjardins die Verbindung herstellen würde, wenn die Passfotos auftauchten? Vielleicht nicht. Schließlich war auch er nur ein Mensch. Vielleicht hatte er die optimierten Fähigkeiten zur Mustererkennung vergessen, mit denen Gesetzesbrecher heutzutage ausgestattet waren. Womöglich hatte er auch gar nichts davon gewusst.
Oder vielleicht war es seine Absicht gewesen, dass Desjardins seine neue Identität durchschaute. Vielleicht war das Ganze doch nur irgendein perverser Loyalitätstest im
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