Mahlstrom
Inzwischen müsste sie irgendetwas spü ren.
Das tat sie auch. Sie verspürte eine brennende, alles verzehrende Neugierde.
Sie drückte über den Tisch hinweg Martins Hand und ging zu ihrem Büro. Ihre Schicht würde erst in einer halben Stunde beginnen, aber es kümmerte niemanden im System, wenn sie früher anfing. Sie glitt auf ihren Stuhl – eine mit echtem Leder bezogene Antiquität mit ausladenden Armlehnen, die sie sehr mochte – und griff nach ihrem Headset, als sie die Hand ihres Mannes auf ihrer Schulter spürte.
»Warum interessiert sie dich so sehr?«, fragte er. Es war das erste Mal seit dem Zusammenbruch, dass er in ihr Büro kam.
»Marty, ich muss arbeiten.«
Er wartete.
Sie seufzte und drehte sich mit ihrem Stuhl zu ihm herum. »Ich weiß es nicht. Ich denke, es ist ein … ein Rätsel. Etwas, das ich lösen muss.«
»Es ist mehr als das.«
»Warum? Wie kommst du darauf?« Sie hörte die Verbitterung in ihrer eigenen Stimme und sah, welche Wirkung sie auf ihren Mann hatte. Sie holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Ich weiß nicht. Es ist nur so … eigentlich dürfte ein einzelner Mensch gar nichts bewirken können, aber … sie hinterlässt Spuren, verstehst du? Zumindest in der Zone. Irgendwie ist sie von Bedeutung …«
Martin schüttelte den Kopf. »Ist es das, was sie für dich ist? Ein Vorbild?«
»Ich habe nicht gesagt …«
»Womöglich ist sie etwas ganz anderes, Sou. Und wenn sie nun auf der Flucht ist?«
»Wie bitte?«
»Der Gedanke ist dir doch bestimmt auch schon gekommen. Vielleicht stammt sie aus N'Am … oder ich weiß nicht woher, jedenfalls ist sie kein normaler Flüchtling. Warum bleibt sie in der Zone? Warum will sie nicht nach Hause zurück? Wovor versteckt sie sich?«
»Ich weiß es nicht. Das ist ja gerade das Rätselhafte daran.«
»Sie könnte gefährlich sein.«
»Was, für mich? Sie ist weit weg an der Küste! Sie weiß nicht einmal, dass es mich gibt!«
»Trotzdem. Du solltest es melden.«
»Vielleicht.« Perreault drehte sich demonstrativ wieder zu ihrem Schreibtisch um. »Ich muss jetzt wirklich arbeiten, Martin.«
Früher hätte er sie natürlich nicht so leicht davonkommen lassen. Aber er kannte die ihm zugewiesene Rolle, war von einem halben Dutzend wohlmeinender Fachleute darüber aufgeklärt worden. Ihre Frau hat gerade eine äußerst traumatische Erfahrung hinter sich. Sie ist empfindlich. Lassen Sie ihr Zeit.
Drängen Sie sie nicht.
Also hielt er sich an die Vorschriften. Ein kleiner Teil von Sou-Hon fühlte sich schuldig, weil sie seine Zurückhaltung ausnutzte. Der Rest von ihr genoss es, wie das Headset in einer beruhigenden Umarmung ihren Kopf umschloss, während sie selbst darüber bestimmte, was sie sehen wollte und was nicht. Die …
»Da hol sich doch der Heiland einen runter«, flüsterte sie.
Das Warnsignal füllte die ganze linke Hälfte ihres Blickfelds aus. Eine der Mechfliegen hatte ein leckeres Informationshäppchen gefunden. Mehr als nur ein Häppchen, einen großen, räuberischen Bissen. Sie schwebte weniger als drei Meter vom Ziel entfernt in der Luft.
Und dieses Mal war es nicht Amitav, sondern eine Verbindung aus Fleisch und Maschinen. Eine Frau, mit einem Uhrwerk in der Brust.
Tiefe Nacht unter einer endlosen Wolkendecke. Über das schwarze Wasser hinweg betrachtet wirkten die Scheinwerfer und Heizgeräte entlang der Zone wie verschwommene Lichtpunkte in der Ferne. Perreault schaltete die Lichtverstärker ein.
Die Meerjungfrau kauerte direkt vor ihr auf einem zerklüfteten Riff, einhundertfünfzig Meter von der Küste entfernt. Der Ozean, funkelnd von phosphoreszierenden Mikroben, versuchte sie von dem Felsen hinabzustoßen. Das Riff ragte etwa einen Meter über die Wellen hinaus, unzählige winzige Wasserfälle liefen an seinen Seiten hinab. Wenn die Wellen hochschlugen, wurde die Meerjungfrau selbst zu einem runden schwarzen Gesteinsbrocken, der im leuchtenden Schaum kaum zu sehen war.
Sie richtete sich auf. Die Brandung reichte ihr bis über die Knie. Sie stolperte, doch es gelang ihr, das Gleichgewicht zu bewahren. Ihr Gesicht war ein blasses Oval, das auf einen schwarzen Körper gemalt war.
Ihre Augen waren noch blassere Ovale, die auf ihr Gesicht gemalt waren. Ihr Blick glitt an der vor ihr schwebenden Mechfliege vorbei.
Sie schien sie nicht einmal zu bemerken.
Sie neigte den Kopf nach unten und blickte dann wieder geradeaus. Schließlich hob sie den glatten, ebenholzfarbenen Arm mit
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