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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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vorbeiziehen. Ihr bliebe der Bruchteil einer Sekunde, um sich an der Vorderkante festzuhalten.
    Vielleicht zehn Sekunden, um sich in Position zu bringen.
    Sie hätte es beinahe geschafft.
    Ihre rechte Hand bekam die Finne zu fassen; die linke glitt jedoch ab, von der Turbulenz irregeleitet. Innerhalb von Sekunden war die Klappe vorbeigezogen und nahm Clarkes Hand mit sich. Ihre Muskeln spannten sich wie Bogensehnen. Ihre rechte Schulter rutschte aus dem Gelenk. Clarke wollte schreien, ihr gefluteter Amphibienkörper ließ das jedoch nicht zu.
    Sie schob ihren linken Arm nach vorn. Der Wasserwiderstand schlug ihn zurück. Sie versuchte es noch einmal. Die Muskeln ihrer rechten Schulter beschwerten sich wütend. Ihre linke Hand tastete sich an der Oberfläche der Klappe hinauf. Schließlich fanden ihre Finger die Vorderkante und klammerten sich reflexartig daran fest.
    Ihre Schulter rutschte wieder ins Gelenk zurück. Die Schultermuskeln, denen man es offenbar nie recht machen konnte, beschwerten sich erneut lauthals.
    Eine Kaskade aus Wasser und Schaum versuchte, sie von ihrem Platz zu vertreiben. Der Wrangler bewegte sich sehr langsam vorwärts. Sie konnte sich gerade so festhalten. Die Besatzung würde die Drosselklappe öffnen, sobald sie die letzte Kanalmarkierung hinter sich gelassen hatte.
    Sie schob sich seitlich die schräge Fläche hoch. Das Meerwasser wurde zu Gischt, und dann war sie in Sicherheit, an den Schiffsrumpf gedrückt. Sie öffnete die Gesichtsversiegelung. Mit einem müden Seufzen blies sich ihre Lunge wieder auf.
    Die Klappe war um etwa zwanzig Grad nach unten geneigt. Clarke lehnte sich mit dem Rücken gegen die Schiffshülle, zog ihre Knie an und stemmte die Füße gegen die schräge Fläche. Sie saß sicher verankert gut zwei Meter über der Meeresoberfläche. Die Sohlen ihrer Schwimmflossen boten genügend Widerstand, um zu verhindern, dass sie abrutschen würde.
    Die letzte Spiere des Kanals glitt vorbei. Das Schiff begann Fahrt aufzunehmen. Clarke behielt einerseits die Küste im Auge und andererseits ihre Nav-Anzeige. Es dauerte nicht lange, bis sich die Werte veränderten.
    Endlich ein Schiff, das nach Norden fuhr. Sie atmete auf.
    In der Ferne glitt langsam die Zone vorbei, in deren Hintergrund rippenförmig die östlichen Wachtürme aufragten. Aus dieser Entfernung konnte sie kaum Bewegungen an der Küste erkennen; höchstens verschwommene Flecken, die langsam hin und her wanderten. Wolken aus Mücken, die nicht fliegen konnten.
    Sie dachte an Amitav, den Magersüchtigen. Der Einzige, der genügend Mut besessen hatte, um sie ganz offen zu hassen.
    Sie wünschte ihm viel Glück.

Feuerteufel
    Achilles Desjardins waren die intelligenten Gele schon immer ein wenig unheimlich gewesen. Die meisten Menschen hielten sie für Gehirne in kleinen Kästen, aber das waren sie nicht. Ihnen fehlten die notwendigen Teile. Ob nun Neocortex oder Zerebellum – diese Dinger besaßen nichts dergleichen. Weder Hypothalamus noch Epiphyse. Hier waren nicht Fisch, Reptil und Säugetier übereinandergeschichtet. Sie besaßen keine Instinkte. Keine Bedürfnisse. Sie bestanden einfach nur aus einer Grütze künstlich herangezüchteter Nervenzellen – ein Verstand mit vierstelligem IQ, den es nicht im Geringsten kümmerte, ob er lebte oder starb. Irgendwie lernten sie durch operationale Konditionierung, obwohl sie nicht die Fähigkeit besaßen, sich an einer Belohnung zu erfreuen oder unter einer Strafe zu leiden. Ihre Nervenverbindungen bildeten sich mit derselben Gleichgültigkeit heraus wie Wasser, das ein Flussdelta formte, und lösten sich auf die gleiche Weise wieder auf.
    Aber Desjardins musste zugeben, dass sie durchaus ihren Nutzen hatten. Gegen ein Käsehirn hatte die Internetfauna keine Chance.
    Nicht dass sie es nicht versucht hätte. Die Ökosysteme des Mahlstroms hatten sich jedoch in einer Welt aus Silizium und Arsenid entwickelt – einige hundert einfache Betriebssysteme, die sich endlos wiederholten. Vorhersehbare Verzeichnisse und Adressen. Dinge, auf die man sich verlassen konnte; nicht ein denkender Fleischbrocken, der sich ständig im Fluss befand. Selbst wenn es einem Hai gelang, seine Architektur auszukundschaften, würde es ihm nichts bringen. Die Gele stellten mit jedem Gedanken neue Verknüpfungen her. Was nützte einem also eine Geländekarte, wenn sich die Landschaft selbst ständig veränderte?
    So jedenfalls sah die Theorie aus. Der Beweis war ein Auge der Ruhe, das einem aus dem

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