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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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schwärender Wunden raste wie ein Rammbock auf ihn zu.
    Lubin schlug mit der Faust gegen die Basis des Unterkiefers und spürte, wie Knochen sich durch Fleisch bohrten. Irgendeine in der Tiefe verborgene Tasche der Fäulnis platzte auf, und Flüssigkeit spritzte ihm ins Gesicht wie ein stinkender Geysir.
    Der Rammbock war verschwunden. Das Gewicht hob sich von seinem Bein. Stummelförmige Gliedmaßen droschen auf den Sand neben Lubins Gesicht ein.
    Als er das nächste Mal den Knüppel zu fassen bekam, hielt er ihn fest und rüttelte daran, sodass er Holz über Knochen kratzen hörte. Der Bulle warf sich herum und bäumte sich unter ihm auf. Er spürte offenbar so viele verschiedene Quellen des Schmerzes, dass er nicht einmal mehr zu wissen schien, wo sich sein Angreifer befand. Plötzlich rutschte die Spitze des Knüppels in eine Vertiefung zwischen den Rückenwirbeln. Noch einmal stieß Lubin den Knüppel mit aller Kraft, die ihm noch verblieben war, nach unten.
    Augenblicklich erschlaffte die sich aufbäumende Masse unter ihm.
    Das Tier war jedoch nicht gänzlich tot. Das Auge des Bullen folgte ihm noch, trübe und resigniert, als er um seinen Kopf herumging. Er hatte ihn lediglich vom Nacken abwärts gelähmt, sodass er nun nicht mehr atmen oder sich bewegen konnte. Ein tauchendes Säugetier. Im Verlauf etlicher Millionen Jahre daran angepasst, längere Zeit ohne Sauerstoff auszukommen. Wie lange würde es dauern, bis sich das Auge nicht mehr bewegte?
    Er wusste, was er zu tun hatte. In gewisser Hinsicht waren Seelöwen anderen Säugetieren sehr ähnlich. Sie besaßen eine Öffnung an der Schädelbasis, wo das Rückenmark mit dem Gehirn verbunden war. Das Hinterhauptloch, wurde es genannt. Die Kenntnis solcher anatomischer Einzelheiten war für jemanden in Lubins Berufszweig durchaus nützlich.
    Er zog die Waffe aus dem Fleisch und setzte sie an der Rückseite des Schädels an.
    Etwa drei Sekunden später hörte das Auge auf, sich zu bewegen.
     
    Er verspürte ein kurzes Brennen in den Augen, als er sich bereit machte, die Insel zu verlassen, ein Kloß im Hals, der nicht allein auf den engen Verschluss seiner Taucherhaut zurückzuführen war. Er wusste, dass es Bedauern war. Er hatte nicht tun wollen, was er gerade getan hatte.
    Natürlich würde ihm das niemand glauben. Schließlich war er unter anderem ein Berufsmörder. Wenn irgendjemand herausfand, worin Ken Lubins wahres Tätigkeitsfeld bestand, hatte er es selten eilig, ihn näher kennenzulernen.
    Aber eigentlich hatte Lubin nie irgendetwas oder irgendjemanden töten wollen. Er bedauerte jedes Leben, das er genommen hatte. Selbst das eines großen, dummen, unfähigen Räubers, der nicht einmal den Anforderungen seiner Spezies gerecht werden konnte. Natürlich hatte er, was seinen Beruf anging, keine Wahl. Nur dann tat er es – wenn ihm keine andere Wahl blieb.
    Und wenn das der Fall war, wenn sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft waren und er seine Arbeit nur noch machen konnte, indem er gezwungenermaßen zum Mörder wurde – dann war sicher nichts Schlechtes daran, seine Arbeit effizient und professionell zu erledigen. Und sicher war auch nichts weiter dabei, das Ganze ein klein wenig zu genießen.
    Es war nicht einmal seine Schuld, dachte er, als er in die Brandung watete. Er war einfach so programmiert worden. Seine Vorgesetzten hatten das im Grunde selbst zugegeben, als sie ihn in diese Auszeit geschickt hatten.
    Ein kleiner Hügel aus verwesendem Fleisch fiel ihm an der Küste ins Auge. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Er hatte das Leiden des Tiers beendet. Eine gute Tat, um sich dem Ort gegenüber erkenntlich zu zeigen, der ihn in den letzten Wochen am Leben erhalten hatte.
    Mach's gut , dachte er.
    Dann versiegelte er seine Kapuze und aktivierte die Implantate. Seine Nebenhöhlen, die Bronchien und der Verdauungstrakt wehrten sich kurz, gaben den Kampf jedoch sofort wieder auf. Mit beruhigender Vertrautheit strömte der Pazifik durch seine Brust. Winzige Funken trennten Sauerstoff- und Wasserstoffmoleküle voneinander und leiteten die brauchbaren Teile an die Blutgefäße in seinen Lungen weiter.
    Er wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis er die Reihe aus einzelnen Lichtpunkten am Horizont erreichen würde. Und wie lange sie brauchen würden, um ihn zum Festland zurückzubringen. Er wusste nicht einmal genau, was er tun würde, wenn er dort ankam. Im Augenblick wusste er nur eines:
    Ken Lubin – ein vom Schuldgefühl beherrschter

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