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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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genützt hätte …
    Sie stieß sich vom Boden ab.
    Sie erinnerte sich, dass an einer der Wände der Blockhütte eine alte Geländekarte befestigt gewesen war. Darauf waren einige weitere Blockhütten verzeichnet gewesen, die sich in regelmäßigen Abständen entlang irgendeiner Patrouillenroute durch den Wald befanden. Wahrscheinlich standen sie die meiste Zeit über leer. Es gab eine weiter nördlich, am Ufer des – wie hatte der Bach doch gleich geheißen? – Nigel Creek. Sie konnte fliehen. Sie konnte das Ungeheuer weit hinter sich zurücklassen – und Tracy-Oh, Gott. Tracy.
    Sie durchbrach die Oberfläche.
    Ihr Rucksack lag am Ufer des Sees, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Die Blockhütte stand am gegenüberliegenden Ende der Lichtung, die Tür fest verriegelt. Im Innern brannte Licht. Die Vorhänge waren vor das Fenster gezogen worden, doch das Leuchten an seinen Rändern war so offensichtlich, dass man es auch ohne Augenkappen hätte sehen können.
    Sie kroch aus dem See. Bei ihrer Rückkehr in die Welt der Schwerkraft wurde sie von einem Dutzend unterschiedlicher Schmerzen begrüßt. Sie achtete nicht darauf, sondern hielt den Blick nur auf das Fenster gerichtet. Eigentlich war sie zu weit entfernt, um sehen zu können, wie der Vorhang ein klein wenig zur Seite gezogen wurde und ein unsichtbares Auge hinausspähte. Doch sie sah es trotzdem.
    Tracy war dort drin.
    Lenie Clarke hatte sie nicht gerettet. Lenie Clarke war nur ganz knapp selbst mit heiler Haut davongekommen, und Tracy – Tracy gehörte immer noch Gordon.
    Hilf ihr.
    Vorhin war ihr das so einfach vorgekommen. Wenn sie nur den Knüppel nicht verloren hätte …
    Jetzt hast du ihn. Er ist dort an deinem Bein. Hilf ihr, verdammt noch mal …
    Ihr stockte der Atem.
    Du weißt, was er ihr antut. Du weißt es. Hilf ihr …
    Sie zog die Beine an die Brust und schlang die Arme darum, doch ihre Schultern wollten nicht aufhören zu zittern. Auf der in silbrigen Mondschein getauchten Lichtung klangen ihre Schluchzer viel zu laut.
    In der verriegelten, stillen Blockhütte regte sich nichts.
    Hilf ihr, du Feigling. Du wertloses Stück Scheiße. Hilf ihr …
    Nach einer ganzen Weile nahm sie schließlich ihren Rucksack, stand auf und ging davon.

Schlachtross
    Über einen Monat lang hatte Ken Lubin auf den Tod gewartet. Nie zuvor hatte er so bewusst gelebt wie in jener Zeit.
    Die allgegenwärtigen Winde hatten die Felsen der Insel zu komplizierten Fresken geschliffen, voller Türmchen und versteinerten Honigwaben. Möwen und Kormorane hockten in Alkoven aus gewölbtem Sandstein. Eier waren keine zu finden – offenbar brüteten die Vögel im Herbst nicht –, doch es gab jede Menge Fleisch. Trinkwasser war ebenfalls kein Problem. Lubin musste nur ins Wasser gleiten und den Entsalzer in seiner Brust zum Leben erwecken. Die Taucherhaut funktionierte immer noch, obwohl sie ein wenig ramponiert war. Ihre Poren ließen destilliertes Wasser durch, um seinen Körper durchzuspülen, und verhinderten das Eindringen von kaustischen Salzen. Während des Badens ergänzte er seinen Speiseplan durch Krustentiere und Seegras. Er war kein Biologe, aber seine Überlebensfähigkeit war nach modernsten Maßstäben optimiert worden. Wenn es natürliche Gifte gab, die er nicht schmecken konnte, hatten ihn seine Arbeitgeber höchstwahrscheinlich dagegen immunisiert.
    Er schlief unter einem Himmel, der so voller Sterne war, dass ihr Leuchten sogar noch den hellen Dunst am östlichen Horizont überstrahlte. Auch die Wildtiere leuchteten nachts. Anfangs war es ihm nicht aufgefallen, weil seine Augenkappen ihn der Dunkelheit beraubten und die Nacht in farbloses Tageslicht verwandelten. Eines Nachts war er dieser unbarmherzigen Klarheit überdrüssig geworden und hatte die Augenkappen herausgenommen. Eine Kolonie von Seehunden unter ihm an der Küste hatte ein schwaches blaues Licht abgestrahlt.
    Die meisten der Seehunde waren über und über mit Tumoren und Abszessen bedeckt. Lubin wusste nicht, ob das ein natürlicher Zustand war oder nur eine weitere Auswirkung der Abwässer des 21. Jahrhunderts. Er war sich allerdings ziemlich sicher, dass Wunden eigentlich nicht im Dunkeln leuchten sollten. Diese taten es jedoch. Bei Tageslicht sickerte aus den offenen Stellen ein rotes Sekret, das in der Nacht leuchtete wie die Photophoren von Tiefseefischen. Und es waren nicht nur die Tumore – wenn die Seehunde ihn ansahen, leuchteten ihre Augen saphir blau.
    Ein kleiner Teil von Ken Lubin

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