Mahlstrom
konnte nicht umhin, sich eine Erklärung dafür zusammenzureimen: mutierte biolumineszente Bakterien. Lateraler Gentransfer von den Mikroben, die das Elmsfeuer entzündet hatten, bevor ihnen die allgegenwärtige UV-Strahlung den Garaus gemacht hatte. Luciferin-Moleküle, die bei Kontakt mit Sauerstoff ein fluoreszierendes Licht abgaben. Damit ließe sich das Leuchten der offenen Wunden erklären und das der Augen mit ihren vielen Kapillaren.
Der weitaus größere Teil von ihm staunte jedoch nur über die schiere Absurdität, dass Krebs schön sein konnte.
Sein Körper reparierte sich schneller als der eines normalen Menschen. Gewebe wuchs wieder zusammen und bildete sich neu, beinahe als würde es sich ebenfalls um einen Tumor handeln. Lubin war dankbar dafür, dass seine Zellen mit zusätzlichen Mitochondrien vollgestopft waren, dass er trimerische Antikörper besaß und die Produktion von Makrophagen, Lymphokinen und Fibroblasten zweimal so schnell vonstatten ging wie bei gewöhnlichen Säugetieren. Nach wenigen Tagen konnte er schon wieder hören. Zunächst klangen die Geräusche klar und schön und wurden schließlich immer gedämpfter, während die sich vermehrenden Zellen seiner Trommelfelle weiterwuchsen – durch ein Dutzend Manipulationen mithilfe von Retroviren zu höchster Betriebsamkeit angeregt. Als sie endlich zum Stillstand kamen, fühlten sich Lubins Trommelfelle an, als würden sie aus Spanplatten be stehen.
Doch das störte ihn nicht weiter. Er konnte immer noch ganz gut hören. Und selbst vollkommene Taubheit wäre ein fairer Preis für einen Körper gewesen, der erheblich widerstandsfähiger war als der eines Durchschnittsmenschen. Die Natur hatte ihm sogar ein Beispiel dafür geliefert, wie die Alternative aussähe, sollte er jemals undankbar werden: ein Seelöwe, ein alter Bulle, der etwa eine Woche nach Lubins Ankunft am Südende der Insel aufgetaucht war. Er war beinahe fünfmal so groß wie die Seehunde, die ihm Platz machten, und er hatte ein von Gewalt bestimmtes Leben geführt. In irgendeinem Kampf in jüngster Zeit war ihm der Unterkiefer an der Basis abgebrochen. Der Kiefer hing ihm wie eine grotesk angeschwollene, mit Zähnen besetzte Zunge herab. Haut, Muskeln und Bänder waren alles, was ihn noch mit dem Kopf des Geschöpfs verband. Mit jedem Tag schwoll das Gewebe mehr an und begann zu eitern. An einigen Stellen riss die Haut auf und eine weißlich orangefarbene Flüssigkeit quoll daraus hervor, während die natürlichen Schutzfunktionen des Körpers darum rangen, die Risse wieder zu ver schließen.
Ein dreihundert Kilo schwerer Räuber, der im besten Alter bereits zum Tode verurteilt war. Der Hungertod oder eine Infektion waren die einzigen Möglichkeiten, die ihm blieben, und selbst zwischen diesen konnte er sich nicht frei entscheiden. Soweit Lubin wusste, war zu Selbstmord nur der Mensch in der Lage.
Die meiste Zeit lag der Bulle einfach nur da und atmete schwer. Hin und wieder kehrte er für ein paar Stunden in den Ozean zurück. Lubin fragte sich, was er dort draußen wohl tat. Versuchte er immer noch zu jagen? Wusste er denn nicht, dass er bereits tot war? Waren seine Instinkte so fest in ihm verankert?
Und doch verspürte Lubin aus irgendeinem Grund eine Art Verbundenheit mit dem sterbenden Tier. Manchmal schienen sie beide die Zeit aus den Augen zu verlieren. Die Sonne machte bei ihrem Abstieg in das westliche Meer vorsichtig einen Bogen um die Insel, und zwei müde und gebrochene Geschöpfe – die einander mit endloser, schicksalsergebener Geduld beobachteten – bemerkten kaum, wenn die Nacht hereinbrach.
Nach einer Weile begann er zu glauben, dass er doch überleben würde.
Inzwischen war ein Monat vergangen, und das einzige Symptom, das er in der Zwischenzeit bemerkt hatte, war gelegentlicher Durchfall. Er hatte Spulwürmer in seinen Exkrementen gefunden. Keine angenehme Entdeckung, aber auch nicht gerade lebensbedrohlich. Heutzutage infizierten sich manche Menschen sogar freiwillig damit. Angeblich sollten sie die Immunreaktion stärken.
Vielleicht hatte sein optimiertes Immunsystem ihn ja vor dem bewahrt, was die NB so plötzlich in helle Aufregung versetzt hatte. Womöglich hatte er auch einfach Glück gehabt. Es bestand sogar die geringe Wahrscheinlichkeit, dass er die ganze Situation falsch eingeschätzt hatte. Bis jetzt hatte er sich damit abgefunden, den Rest seines Lebens in der Verbannung zu verbringen. Sein Überlebensinstinkt und der Glaube,
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