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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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dass seine Arbeitgeber sicher etwas dagegen hätten, wenn Ken Lubin überall auf der Welt eine ansteckende Apokalypse verbreitete, waren dabei zu einem wackligen Kompromiss gelangt. Aber womöglich gab es gar keine Apokalypse, keine Infektion. Vielleicht hatte er gar nichts zu befürchten.
    Vielleicht war etwas ganz anderes im Gange.
    Vielleicht , dachte er, sollte ich herausfinden, was es ist.
    Wenn er nachts nach Osten blickte, konnte er in der Nähe des Horizonts manchmal sich bewegende Lichter funkeln sehen. Die Routen, denen sie folgten, waren vorhersehbar, so stereotyp wie ein Tier, das in seinem Käfig auf und ab lief: Seetangerntemaschinen. Roboter, die den Ozean abmähten. Sie besaßen keinerlei Sicherheitsvorrichtungen – wenn es einem gelang, an den messerscharfen Zähnen an ihrem Bauch vorbeizukommen. Sie waren jedem einigermaßen entschlossenen Tramper, der zufälligerweise auf dem Kontinentalschelf des Pazifiks gestrandet war, schutzlos ausgeliefert.
    Das Schuldgefühl machte sich halbherzig in seinen Eingeweiden bemerkbar. Es flüsterte ihm zu, dass das alles nur haltlose Vermutungen waren. Ein Monat ohne Symptome bedeutete nicht zwangsläufig, dass er gesund war. Es gab zahllose Krankheiten, die eine weitaus längere Inkubationszeit besaßen.
    Und dennoch …
    Dennoch besaß er keinen stichhaltigen Beweis dafür, dass er tatsächlich mit irgendetwas infiziert war. Er konnte nur Vermutungen anstellen, auf die vage Annahme hin, dass die gegenwärtigen Machthaber offenbar wollten, dass er von der Bildfläche verschwand. Es hatte keine Befehle gegeben, keine Anweisungen. Sein Bauchgefühl konnte sich zwar fragen, was seine Vorgesetzten vorhatten, doch es konnte nicht sicher sein – und überließ es deshalb ihm, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.
     
    Seine erste Entscheidung war, einen Mord aus Mitgefühl zu begehen.
    Er hatte die Rippen aus den Flanken des Seelöwen hervortreten sehen, während das Tier immer weiter abgemagert war. Er hatte gesehen, wie das fleischige Gelenk seines Unterkiefers Stück für Stück immer starrer geworden war, durch die heftige Infektion und das schiefe Zusammenwachsen des verdrehten Knochens fixiert. Als er den Bullen das erste Mal gesehen hatte, hatte sein Kiefer noch herabgebaumelt. Jetzt ragte der Knochen lediglich steif und unbeweglich aus einer Wulst brandigen Fleisches hervor. Der ganze Körper war von Läsionen übersät.
    Inzwischen hob der alte Bulle kaum noch den Kopf vom Sand, und wenn er es doch tat, dann waren der Schmerz und die Erschöpfung in jeder Bewegung zu erkennen. Ein trübes, milchiges Auge beobachtete, wie sich Lubin ihm von der Landseite her näherte. Möglicherweise lag Erkennen darin, vielleicht aber auch nur Gleichgültigkeit.
    Lubin blieb ein paar Meter von dem Tier entfernt stehen und hob ein Stück Treibholz hoch, das so dick wie sein Unterarm war und an einem Ende angespitzt. Der Gestank war entsetzlich. Maden wanden sich in den Wunden des Tiers.
    Lubin drückte die Waffe mit der Spitze voran in den Nacken des Tiers.
    »Hallo«, sagte er leise und rammte den Knüppel mit aller Macht nach unten.
    Erstaunlicherweise hatte das Tier noch genügend Kraft übrig, um sich zu wehren. Brüllend bäumte es sich auf, stieß mit einer Seite des Kopfes gegen Lubins Brust und schleuderte ihn mühelos durch die Luft. Schwarze Haut, die sich zwischen den verdrehten Überresten des Unterkiefers spannte, platzte bei dem Aufprall auf. Eiter sprühte aus dem Riss hervor. Das Brüllen des Bullen klang nun nicht mehr trotzig, sondern nur noch schmerzerfüllt.
    Lubin kam auf dem Sand auf und rollte sich herum, sodass er außerhalb der Angriffsreichweite des Seelöwen wieder aufstehen konnte. Das Tier hatte seinen Oberkiefer in dem Knüppel verhakt, der in seinem Nacken steckte, und versuchte ihn herauszuziehen. Lubin umkreiste ihn und näherte sich ihm von hinten. Der Bulle sah ihn kommen und drehte sich ungeschickt, wie ein zusammengeschossener Panzer. Lubin täuschte einen Angriff vor; der Bulle warf sich mit letzter Kraft nach links. Lubin wirbelte herum, sprang vor und packte den Knüppel. Das Holz trieb Splitter in seine Handballen, als er es so fest wie möglich nach unten drückte.
    Der Bulle rollte sich kreischend auf den Rücken, und eines von Lubins Beinen geriet unter einen Körper, der – selbst bei der Hälfte seines normalen Gewichts – immer noch einen Menschen zerquetschen konnte. Ein monströses, schmerzverzerrtes Gesicht voller

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