Maienfrost
es ganz danach aus, als ob es Leonas Großvater – aus welchen Gründen auch immer – versäumt hätte, ihn zu befragen.
Sich von Carmens Mann zu sämtlichen auf der Liste aufgeführten Personen die Telefonnummern, sofern sie ihm bekannt waren, zu erbeten, war anscheinend gar nicht so dumm gewesen, fand Henning. Es ersparte ihm, die Auskunft zu bemühen. Kurzerhand wählte er die hinter Wigald Austens Namen angegebene Nummer. Nach mehrmaligem Läuten wurde der Hörer abgenommen. »Bei Austen«, meldete sich eine resolute Frauenstimme, von der Henning annahm, dass sie der von Carmens Mann erwähnten Haushälterin gehörte. Eine diesbezüglich gestellte Frage bestätigte seine Vermutung. Als er darum bat, mit ihrem Dienstherrn verbunden zu werden, wurde ihm mitgeteilt, dass Doktor Austen dienstlich unterwegs sei und nicht vor Mittwoch der nächsten Woche zurück erwartet wurde. Die Erwähnung des Doktortitels veranlasste Henning zu der Frage, worauf dieser sich bezog. Der Auskunft, das Wigald Austens akademischer Grad für Doktor der Pharmazie stand, maß er zunächst keine weitere Bedeutung bei.
Nachdem er das Telefonat beendet hatte, fand er, dass es an der Zeit sei, Zwischenbilanz zu ziehen. Wohl oder übel musste er sich dabei auch der Frage stellen, inwieweit ihn das, was er bisher herausgefunden hatte, in Hinblick auf die Mordfälle auf Rügen weiterbringen würde. Die Antwort darauf fiel ernüchternd aus. Die einzig verwertbare Spur, der nachzugehen in seinen Augen Sinn ergab, war Micha Kronstedt. Die Tatsache, dass er sowohl Carmen, als auch David kannte und sich zudem zurzeit nahe den Verbrechensschauplätzen aufhielt, veranlasste den Kommissar, sich auf ihn zu konzentrieren. Er musste ihn unbedingt sprechen. So wie die Dinge lagen, entschloss er sich, nach Lobbe zurückzufahren. Nachdem er seinen Koffer gepackt und das Zimmer bezahlt hatte, befand er sich bereits eine reichliche Stunde später mit seinem Wagen auf der Autobahn. Da sein Auto über eine Freisprechanlage verfügte, versuchte er während der Fahrt Leona zu erreichen, um ihr seine baldige Ankunft mitzuteilen. Als sie sich auf sein Klingeln hin jedoch nicht meldete, versuchte er sein Glück bei Peer. Dieser nahm schon nach dem ersten Läuten ab. Henning informierte ihn darüber, dass er auf dem Heimweg sei und lieferte ihm eine erste kurze Zusammenfassung der Geschehnisse.
12
Als Leona um kurz nach sechs vom Klingeln des Weckers aus dem Schlaf gerissen wurde, ahnte sie noch nicht, dass dieser Tag einer der bedeutendsten ihres Lebens werden würde. Nachdem sie sich angezogen und gefrühstückt hatte, fuhr sie zum Fährhafen nach Mukran, wo sie sich bereits tags zuvor nach den Abfahrtszeiten der Fähren erkundigt hatte. Aufgrund der am Terminal erhaltenen Auskunft entschied sich Leona für die angebotene Tagestour zur dänischen Ostseeinsel Bornholm. Sich für eines der zur Wahl stehenden Ausflugsziele zu entscheiden, war ihr nicht leicht gefallen. Nicht minder reizvoll hätte sie es gefunden, nach Trelleborg überzusetzen und von dort aus mit dem Bus nach Ystad zu den Verbrechensschauplätzen von Henning Mankells Kriminalromanen zu fahren, um den Spuren Kurt Wallanders zu folgen.
Pünktlich stach die weiße Fähre in See. Sich seinen Weg durch die gichtschäumenden Ostseewellen bahnend, bot das, mit dem blauen Logo der Skandinavischen Reederei versehene Schiff, einen beeindruckenden Anblick. Vom Oberdeck aus beobachtete Leona, wie sich der Abstand zur Küste schnell vergrößerte. Die Kreidefelsen leuchteten in der Morgensonne. Bald schon kamen der Königsstuhl und das Kap in Sicht. Solange das Festland noch zu sehen war, umkreisten nimmersatte Möwen das Schiff. Versonnen sah Leona einem kleinen Jungen dabei zu, wie er sie mit Stückchen von seinem Frühstücksbrot fütterte. Von der Sonne geblendet, schirmte sie ihre Augen mit der Hand ab, um zu beobachten, wie sich die hungrigen Vögel in teils waghalsigem Flug auf die Krümel stürzten. Tief atmend füllten sich ihre Lungen bis in die Spitzen hinein mit der salzigen Seeluft. Der Wind spielte mit ihrem Haar und blies es ihr ins Gesicht. Um es zu bändigen, entnahm Leona ihrer Umhängetasche eine Schildpattspange. Damit beschäftigt, ihr rötlich gelocktes Haar aufzustecken, entgingen ihr die bewundernden Blicke der Männer an Bord. Mit ihrem, die Figur betonenden Shirt und der hautengen Jeans hätte man sie aufgrund ihrer Größe und ihrer perfekten Körpermaße problemlos für ein Model
Weitere Kostenlose Bücher