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Maienfrost

Maienfrost

Titel: Maienfrost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maren Schwarz
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halten können. Anstatt sich jedoch darum zu kümmern, welche Aufmerksamkeit sie erregte, sah sie, über die Reling gebeugt, mit verträumtem Blick dem sich entfernenden Festland hinterher. Erst als die Insel nur mehr als Stecknadelkopf am Horizont auszumachen war, ging sie, mit Rücksicht auf ihre empfindliche Haut, die schnell zu Sonnenbrand neigte, unter Deck. Nach einer Sitzgelegenheit Ausschau haltend, entdeckte sie im Mitteldeck, gegenüber dem Duty Free Shop noch einen freien Fensterplatz. Er befand sich ganz vorn. Erfreut steuerte die junge Frau ihn an und ließ sich auf dem mit blauem Plüsch bezogenen Sitz nieder. Während Leona die Umhängetasche vom Arm nahm, um sie auf ihrem Schoß zu deponieren, überlegte sie sich, ob sie für die Zeit der Überfahrt ihre Nase in eine der eigens für diesen Zweck mit an Bord genommenen Fachzeitschriften stecken, oder lieber dem spannenden Medizinthriller von Robin Cook den Vorrang geben sollte. Sie entschied sich für Letzteres. Die medizinischen Abhandlungen konnten warten. Sie zu lesen, hatte sie auf der Rückfahrt noch ausgiebig Zeit. Sich in ihre Lektüre vertiefend, nahm sie kaum wahr, wie die Zeit verging. Kurz bevor die Fähre im Hafen von Rønne, dem mit vierzehntausend Einwohnern größten Ort der Insel, anlegte, hatte sie es geschafft, ihr Taschenbuch durchzuschmökern.
    Die nächsten dreieinhalb, vier Stunden, waren dem Landgang vorbehalten. Das Erste, was Leona erblickte, als sie von Bord ging, war die, inmitten alter Häuser malerisch gelegene, laut ihrem Reiseführer in Teilen noch aus dem vierzehnten Jahrhundert stammende Sankt-Nikolai-Kirche. Nachdem sie das Hafengelände verlassen hatte, folgte sie einer Pflasterstraße, die sie ins gleichfalls sehenswerte Stadtzentrum brachte. Die junge Frau staunte über die vielen kunstvoll gestalteten Fensterauslagen der am Wegrand stehenden Häuser, die mit ihrem teils antiquarischem Anstrich kunstvollen Stillleben glichen.
    Leona war entzückt. Entlang des Gehwegs, an die Fassaden der Häuser geschmiegt, blühten prächtige Malven, deren Handteller große Blütenköpfe sich sanft im Wind wogen. Schon nach wenigen hundert Metern hatte sie das Ortszentrum erreicht. Es wurde von einem vor ihr liegenden Platz geprägt, auf dem ein bunter Wochenmarkt abgehalten wurde. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich eine Bank. Kurz entschlossen steuerte Leona sie an, um einen Teil ihrer Barschaft in dänische Kronen zu tauschen. Wenig später erstand sie an einem der Marktstände ein Eis, das zwar für deutsche Verhältnisse sündhaft teuer war, dafür aber lecker schmeckte. Für das restliche Geld kaufte sie in einem der angrenzenden Souvenirläden zwei mundgeblasene Kerzenständer und eine Packung lachsfarbener Kerzen, die als Mitbringsel für Henning gedacht waren. Nachdem sie die Einkäufe in ihrer Umhängetasche verstaut hatte, erkundete sie den Rest des Ortes. Rønne erinnerte sie an ein verschlafenes mittelalterliches Seefahrerstädtchen. Hier schien die Hektik der modernen Zeit noch nicht angekommen zu sein. Selbst von den verheerenden Spuren, die ein russischer Luftangriff im letzten Krieg, wie im Reiseführer vermerkt, hinterlassen hatte und bei dem große Teile der Stadt zerstört wurden, war kaum noch etwas zu bemerken. Leona hätte noch stundenlang auf dem reizvollen Eiland verweilen mögen, doch ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass es Zeit war, an Bord zurückzukehren.
    Vom Oberdeck der Fähre aus sah sie wenig später die Insel am Horizont verblassen. Wieder unter Deck, kaufte sie sich im Duty Free Shop eine große Flasche Mineralwasser. Die Seeluft hatte sie durstig gemacht. Ihr Magen meldete sich gleichfalls, um zu signalisieren, dass er, abgesehen von dem Eis, seit Stunden nichts mehr bekommen hatte. Nachdem Leona sich wieder auf dem Fensterplatz vom Morgen niedergelassen hatte, entnahm sie ihrer Umhängetasche ein in Stanniol gewickeltes Päckchen, das zwei mit Salami- und Gurkenscheiben belegte Brötchen enthielt. Als ihr Hunger gestillt war, hielt die junge Frau es für unumgänglich, sich nun endlich dem Studium der beiden mitgenommenen Fachzeitschriften zu widmen. Eine wissenschaftliche Arbeit aus dem Jahr 1998 erregte ihre Aufmerksamkeit. Der Verfasser war ihr unbekannt. Das, worüber er schrieb, war jedoch wie eine Offenbarung für Leona, der es plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Geschockt ließ sie die Zeitschrift sinken. Ihre Gedanken überschlugen sich. Das Ganze war

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