Maienfrost
an einem der zahlreichen, im Freien aufgestellten Tische nieder. Ein knallroter, mit Cola-Werbung beschilderter Schirm hielt die ersten, noch zaghaften Sonnenstrahlen von ihm fern. In seinem rechten Knie, das ihn in letzter Zeit häufig Beschwerden verursachte, stach es unangenehm. Henning versuchte den Schmerz zu ignorieren, erinnerte er ihn doch an jedes Einzelne seiner achtundsechzig Jahre, die er mittlerweile auf dem Buckel hatte. Mit einer unwirschen Handbewegung die düsteren Gedanken an seine eigene Vergänglichkeit vertreibend, sah er sich um. Bis auf einen älteren Herrn, der einige Tische von ihm entfernt bei einer Tasse Kaffee die Tageszeitung las, lag die Terrasse, auf der er Platz genommen hatte, verlassen in der Morgensonne. Ein Kellner kam, um ihm die Karte zu bringen und sich nach seinen Wünschen zu erkundigen. Seine bedenklichen Cholesterinwerte ignorierend, bestellte sich Henning eine Portion Spiegeleier mit Würstchen, dazu ein Kännchen Kaffee. Nachdem er sich genüsslich sein verspätetes Frühstück einverleibt hatte und die belebende Wirkung des Koffeins zu wirken begann, zog er voller Tatendrang sein Handy aus der Jackentasche, um Christabelle Kronstedts Nummer zu wählen. Wenig später war er mit ihr verbunden. Ohne lange Vorrede erkundigte sich Henning, ob David Küster Ende der Achtzigerjahre zu Besuch bei ihrer Familie war. Seine Gesprächspartnerin schien nachzudenken. Sekundenlang blieb es still in der Leitung. »Er hielt sich damals hin und wieder für ein paar Tage bei uns auf«, beschied ihm die Frau nach einer Weile.
Des Kommissars Herzschlag beschleunigte sich. Seine Handflächen fühlten sich mit einem mal ganz feucht an. »Nach all der inzwischen vergangenen Zeit kann ich mich jedoch nicht mehr auf jeden Einzelnen seiner Aufenthalte besinnen.«
Henning präzisierte seine Frage. »Es geht mir um die letzten zwei bis drei Jahre vor der Wende. Können Sie mir sagen, ob David Sie in diesem Zeitraum besuchte?«
»Lassen Sie mich überlegen.« Erneut verstrichen einige Minuten, die dem Kommissar, der mit Ungeduld der Antwort entgegensah, wie Stunden erschienen. Nach einer Weile erhielt er die gewünschte Antwort. »Jetzt ist es mir wieder eingefallen«, ließ sich Christabelle Kronstedt erfreut vernehmen. »Es war achtundachtzig im Sommer. Ich weiß das deshalb so genau, weil ich mir am Tag nach Davids Abreise das Wadenbein brach.« Ein ausführlicher Bericht über die Umstände dieses Unfalls, der sie unfreiwillig für einige Wochen außer Gefecht setzte, schloss sich an. Doch Henning hörte nur noch mit halbem Ohr hin. Sein Verdacht hatte sich bestätigt. Sowohl das Jahr, als auch der Zeitpunkt passten perfekt. Almut Mierschs Worten zufolge traf Carmen ihre große Liebe in einer lauen Sommernacht. Nachdem er sich, um nicht unhöflich zu wirken, auch noch eine detaillierte Schilderung des Unfallhergangs und seiner Folgen anhörte, bedankte sich der Kommissar bei Christabelle Kronstedt für ihre Auskunft und beendete das Gespräch.
Mit einem Handzeichen gab er dem Kellner zu verstehen, dass er zahlen wolle. Kurz darauf befand er sich auf dem Rückweg. Obwohl sein Knie sich mehrmals schmerzhaft bemerkbar machte, schaffte er es, bis zur Mittagszeit wieder im Gasthof zu sein. Da er aufgrund seines verspätet eingenommenen und zudem äußerst üppig ausgefallenen Frühstücks noch keinen allzu großen Hunger verspürte, ließ er sich lediglich einen Teller Suppe auf sein Zimmer bringen. Während des Essens überlegte er sich, welche Konsequenzen sich aus seinem mit Christabelle Kronstedt geführten Gespräch ergaben. Er fragte sich, inwiefern ihm das Wissen, dass sich David Küster im Sommer achtundachtzig eine Zeit lang in Lohmen aufhielt, nutzen konnte. Daraus zu schlussfolgern, dass Carmen und er sich kannten lag zwar nahe, doch beweisen ließ es sich nicht – noch nicht.
Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Pascal Austen, um ihm mitzuteilen, dass er die Gästeliste erstellt hätte. »Wäre es Ihnen recht, wenn ich jetzt gleich vorbeikäme, um sie abzuholen?«, erkundigte sich Henning. »Es gibt da nämlich noch ein paar Punkte, über die ich mir im Unklaren bin und über die ich mich gerne noch einmal mit Ihnen unterhalten würde.«
11
Eine knappe halbe Stunde später saßen sich der Kommissar und Pascal Austen in dessen Büro gegenüber. Auf dem Weg zum Haus des Immobilienmaklers hatte Henning Zeit, sich eine
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