Maienfrost
nichts Besonderes dar. Sie bekam erst mit dem Wissen, dass Lea Goldbach, das erste Opfer, dort gearbeitet hatte, einen tieferen Sinn. Gleichzeitig zog diese Einsicht eine zweite, um vieles schwerwiegendere nach sich. Beides zusammengenommen, glaubte Henning nicht mehr an einen Zufall. Als er den Immobilienmakler in Lohmen aufgesucht hatte, war ihm eine an dessen Wohnhaus grenzende Garage aufgefallen. Ihr Tor stand offen und gab den Blick auf zwei Wagen der Luxusklasse preis. Neben einem auf Hochglanz polierten Ferrari mit offenem Verdeck stand ein schwarzer Mercedes mit dunkel getönten Scheiben. Fassungslos schüttelte Henning den Kopf. Bestürzt fragte er sich, wie er nur die ganze Zeit über so blind gewesen sein konnte. Nicht Micha Kronstedt war der Mann den sie suchten sondern Pascal Austen. Plötzlich war alles sonnenklar. Schon wollte er nach seinem Handy greifen, um Peer Bescheid zu geben, als ihm einfiel, dass sein Akku leer war. Ihn anzurufen, würde warten müssen, bis er an einer Telefonzelle vorbeikam. Henning startete den Motor. Während er den Blinker setzte und sich wieder in den Verkehr einfädelte, überlegte er sich, dass er besser daran täte, seinen Freund vorerst nicht zu benachrichtigen.
Sicher hatte dieser schon seinen Vorgesetzten informiert und Schritte zur Ergreifung von Micha Kronstedt eingeleitet. Henning fühlte sich unwohl in seiner Haut. Er mochte sich lieber nicht vorstellen, welcher Ärger Peer seinetwegen ins Haus stand. Würde er jetzt umschwenken, und der Polizei Pascal Austen als Täter präsentieren, büßte er am Ende seine Glaubwürdigkeit ein. Es gab nur einen Weg, um sich endgültige Klarheit zu verschaffen. Er musste den Fall auf eigene Faust aufklären. Darauf hoffend, dass es nicht allzu schwer sein dürfte, des Immobilienmaklers Grundstück ausfindig zu machen, entschloss sich Henning zur Nordspitze der Insel zu fahren. Wäre er erst einmal dort, würde er weiter sehen.
Putbus hinter sich lassend, schlug er den Weg nach Bergen ein. Die Verkehrssituation gestattete ihm ein zügiges Vorankommen. Kurz bevor er sein Ziel erreicht hatte, zwang ihn nahe Nobbin eine auf Rot geschaltete Ampel anzuhalten. Zu seiner Rechten befand sich ein Spielplatz. Geistesabwesend beobachtete er zwei Jungs, die sich allem Anschein nach eine wilde Verfolgungsjagd lieferten. Das panische Geschrei des jüngeren drang bis in sein Auto und veranlasste ihn, genauer hinzusehen. Henning glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er einer auf das Kind gerichteten Schusswaffe gewahr wurde. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, stieß er hervor. »Sind wir den jetzt schon im Wilden Westen?« Von der sich vor seinen Augen abspielenden Szene abgelenkt, entging ihm, dass die Ampel mittlerweile auf Grün stand. Erst als es hinter ihm hupte, wurde er sich dessen bewusst. Um den Verkehr nicht zu behindern, lenkte er seinen Wagen von der Straße auf den Bordstein. Kaum hatte er ihn zum Stehen gebracht, stürzte er nach draußen, um ein seiner Meinung nach kurz bevorstehendes Unglück zu verhindern. Mit erhobenen Händen, die verdächtig nassen Augen angstvoll geweitet, kam ihm ein etwa sechsjähriger Blondschopf entgegen gerannt. Der ihn mit vorgestreckter Waffe verfolgende Junge war selbst noch ein halbes Kind. Geistesgegenwärtig stellte sich Henning ihm in den Weg. Noch bevor er begriff, wie ihm geschah, hatte der Kommissar ihn zu fassen bekommen und ihm die Waffe entrissen. Vergeblich versuchte der Junge, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien.
»Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fuhr Henning ihn an. Angesichts dessen, dass sein Freund Rüdiger Paulus vor noch nicht allzu langer Zeit einer verirrten Kugel wegen sein Leben lassen musste, wog der Revolver umso schwerer in seiner Hand. »Was glaubst du, was das hier ist? Etwa ein harmloses Spielzeug? Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, wie gefährlich es ist, damit herumzuexperimentieren?«
Er konnte einfach nicht glauben, wie leichtsinnig manche Menschen die elementarsten Grundregeln missachteten. Für ihn stand außer Frage, dass das Schießeisen des Jungen aus dem elterlichen Waffenschrank stammte. Während er seinen Griff lockerte, führte er dem Knaben vor Augen, welch verheerende Folgen ein versehentlich ausgelöster Schuss anrichten konnte.
Der Junge sah trotzig zu ihm auf. Anstatt sich einsichtig zu zeigen, versuchte er sich aus der Umklammerung zu befreien. Kaum war es ihm gelungen, forderte er mit schniefender
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