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Maigret 17

Maigret 17

Titel: Maigret 17 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simenon
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immer. Auch er hat die Pfeife neben seinen Teller gelegt, wenn er aß. Er hatte auch solche Schultern wie Sie. Wissen Sie, daß Sie ihm ähnlich sind?«
    Sie weinte nicht, sie wischte sich nur die Augen aus.

4
    Der Enzian
    E
    s war die blaue Stunde mit ihrem Zwielicht, wenn die letzten Strahlen der untergehenden Sonne sich wie Nebel in der nahenden Kühle der Nacht auflösen. Maigret verließ die Liberty Bar, wie man einen bösen Ort verläßt, die Hände in den Taschen vergraben und den Hut in die Stirn gedrückt. Und dennoch verspürte er nach einigen Schritten das Bedürfnis umzukehren – als müßte er sich davon überzeugen, daß der Ort, den er eben verlassen hatte, Wirklichkeit war.
    Es gab die Liberty Bar tatsächlich, mit ihrer schmalen Fassade eingeklemmt zwischen zwei andere Häuser, häßlich braun gestrichen und mit den gelben Buchstaben auf dem Reklameschild.
    Hinter der Scheibe stand ein Blumentopf, daneben schlief eine Katze.
    Jaja schlummerte sicher in ihrem Hinterzimmer, allein mit dem Wecker, der die Minuten zählte.
    Am Ende der Straße angekommen, umfing ihn wieder das normale Leben: Geschäfte, normal gekleidete Leute, Autos, die Trambahn, der Verkehrspolizist.
    Rechts schließlich die Croisette, die zu dieser Stunde aufs Haar den Reklamebildern glich, wie sie der Fremdenverkehrsverein in Luxusgeschäften aufstellen ließ.
    Alles war sanft und friedlich. Die Menschen liefen ohne Hast durch die Straßen. Die Autos glitten geräuschlos vorüber, als würden sie ohne Motor fahren, und im Hafen lagen all die hellgestrichenen Yachten …
    Maigret fühlte sich müde und dumpf, aber er mochte auch nicht nach Antibes zurückfahren. Er lief ziellos geradeaus, blieb stehen, ohne zu wissen warum, ging in irgendeine Richtung weiter, so als wäre der bewußte Teil seines Wesens in Jajas Höhle zurückgeblieben, an dem unabgedeckten Tisch, an dem mittags der artige schwedische Steward gesessen hatte, gegenüber von Sylvie mit ihren nackten Brüsten.
    Zehn Jahre lang hatte sich William Brown einmal im Monat mehrere Tage hier aufgehalten, war faul im warmen Dunst gesessen, neben Jaja, die nach etlichen Gläsern weinerlich wurde und dann auf ihrem Stuhl einschlief.
    »Gott, ja, der Enzian!«
    Maigret war ganz begeistert, daß er endlich gefunden hatte, wonach er seit einer Viertelstunde suchte, ohne es zu wissen. Seitdem er die Liberty Bar verlassen hatte, versuchte er hartnäckig, sich ein Bild zu machen, hinter der pittoresken Oberfläche das Eigentliche zu entdecken. Jetzt hatte er es gefunden! Er erinnerte sich an einen Satz, den ein Freund ihm einmal gesagt hatte, als er ihm einen Aperitif anbot.
    »Was möchtest du?«
    »Einen Enzian.«
    »Was ist denn das für eine neue Mode!«
    »Das ist keine Mode! Es ist die letzte Zuflucht des Säufers, mein Lieber! Du kennst ja Enzian, er schmeckt bitter. Es ist nicht mal mehr Alkohol. Und wer sich dreißig Jahre lang mit allen möglichen und unmöglichen Sorten Alkohol hat vollaufen lassen, dem bleibt nur noch dieses eine Laster. Nur noch diese Bitterkeit erregt ein Prickeln auf der Zunge!«
    Das war es! Die Liberty Bar war ein Ort, an dem es kein Laster, keine Bosheit mehr gab. Eine Bar, wo man durchs Lokal gleich in die Küche ging und wo einen der vertrauliche Umgangston von Jaja empfing.
    Man trank, während sie in der Küche herumhantierte, man holte sich beim Metzger um die Ecke sein Stück Fleisch. Sylvie kam herunter, verschlafen und halbnackt, und man küßte sie auf die Stirn, ohne auf ihre spärlichen Brüste noch einen Blick zu werfen.
    Es war nicht sehr sauber und nicht sehr hell. Und es wurde nicht viel geredet. Das Gespräch schleppte sich träge hin, ohne rechtes Interesse, wie bei ganz gewöhnlichen Leuten.
    Es gab kein Draußen mehr, keine Betriebsamkeit. Lediglich ein kleines Rechteck Sonne.
    Man aß, man trank, man schlief und dann trank man wieder, während Sylvie sich anzog und die Strümpfe über die Beine hochzog, bevor sie zur Arbeit ging.
    »Bis später, Onkel.«
    War es nicht dieselbe Geschichte wie die mit dem Enzian, die sein Bekannter ihm erzählt hatte, und war die Liberty Bar nicht der letzte Zufluchtshafen, wenn man alle Laster gesehen und ausprobiert hatte?
    Frauen, die nicht schön waren und nicht kokettierten, die keine Begierden hatten, die man selbst auch nicht begehrte, die man auf die Stirn küßte, denen man hundert Francs gab, um sich Strümpfe zu kaufen, und die man beim Heimkommen fragte:
    »Na, wie is’ es

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