Maigret - 18 - Maigret in Nöten
aus der Luft gegriffen. Trotzdem hatte Maigret sie den Säugling stillen gesehen, ob es nun ihr Kind war oder das einer anderen Frau, und so war sie eben doch eine junge Mutter, die sich, verängstigt durch seine väterliche Geste, in der hinteren Kajüte eingeschlossen hatte! Der Gedanke an den stockbetrunkenen Alten, der da in sein Glas flennte, und an den Säugling in seiner Wiege wühlte ihn auf.
»Sind sie viel unterwegs?«
»Das ganze Jahr.«
»Haben sie keinen Gehilfen?«
»Sie sind allein. Aline hält das Ruder wie ein Mann.«
Maigret hatte sie gesehen, diese Kanäle im Norden mit ihren grünen, gradlinigen Ufern, den Pappelalleen entlang der ebenen Wasserläufe und den in der Landschaft verlorenen Schleusen mit ihren verrosteten Kurbeln, den Katen, an denen Rosen emporranken, und den Enten, die sich in den Wasserwirbeln bei den Schleusentoren tummeln.
Er stellte sich die ›Toison d’Or‹ vor, wie sie Stunde um Stunde, Tag für Tag die Wasserschleife hinauftuckerte, bis sie an irgendeinem Quai anlegte, Aline am Ruder, das Baby in seiner Wiege, auf Deck vermutlich, in der Nähe des Steuers, und der Alte hinter seiner Maschine liegend. Ein alter Säufer, eine Verrückte und ein Säugling …
4
Als Maigret am nächsten Morgen um sechs Uhr aus der Straßenbahn der Linie 13 stieg und Richtung Schleuse ging, stand Émile Ducrau bereits auf der Entladerampe, die Schiffermütze auf dem Kopf, in der Hand einen schweren Stock.
Wie schon die ganzen letzten Tage war auch an diesem Morgen die Pariser Luft, das Pariser Leben von einer frühlingshaften, spielerischen Freude erfüllt. Manche Dinge, manche Leute waren wie Sinnbilder der Geruhsamkeit und Lebensfreude: die Milchflaschen vor den Türen, das Milchmädchen in der weißen Schürze neben dem Ladentisch, der Lieferwagen, der auf der Rückkehr vom Großmarkt, den sogenannten ›Halles‹, noch ein paar letzte Kohlblätter hinter sich aussäte.
Und mochte das nicht auch für das Fenster in dem hohen Haus gelten, dessen Fassade von der Sonne vergoldet wurde und wo man die Hausangestellte der Ducraus sah, wie sie ihre Putzlappen ausschüttelte? Hinter ihr, halb im Dunkel des Wohnzimmers, erahnte man Madame Ducrau, die hin und her ging, ein Kopftuch umgebunden.
Im zweiten Stock waren die Klappläden noch geschlossen, und man konnte sich vorstellen, wie die Sonne Streifen auf das Bett von Rose warf, der molligen Geliebten, die dort schlief, die Arme angewinkelt, mit feuchten Achselhöhlen.
Ducrau, der um diese Tageszeit bereits mit beiden Beinen wieder im Alltagsleben stand, warf dem Kapitän eines Schiffes, das eben zur Schleuse hinaus- und in die Strömung der Seine hineinglitt, einen letzten Satz zu. Er hatte Maigret bereits gesehen. Nun zog er eine große goldene Uhr aus der Tasche.
»Da habe ich mich also nicht geirrt. Sie sind wie ich.«
Damit wollte er wohl sagen, dass auch der Kommissar zu den Frühaufstehern gehöre, die anderer Leute Arbeit organisieren.
»Darf ich noch kurz etwas erledigen?«
Er war so breit, dass er beinahe quadratisch erschien. Allerdings trug er noch einen Verband um den Leib. Trotzdem war er sehr lebhaft, und Maigret sah ihn von der Schleusenmauer auf Deck eines Kahns springen, der einen Meter entfernt und um einiges tiefer lag.
»Guten Morgen, Maurice. Bist du der ›Aigle IV‹ oberhalb von Chalifert begegnet? Haben sie die Dichtungen erhalten?«
Er hörte kaum zu. Kaum hatte man ihm das Nötigste geantwortet, bedankte er sich mit einem Brummen und wandte sich an jemand andern.
»Weißt du etwas über den Unfall an der Brücke von Revin?«
Neben dem Steuerruder auf Deck der ›Toison d’Or‹ saß Aline und mahlte mit stumpfem Blick Kaffee. Kaum hatte Maigret sie bemerkt, als schon wieder Ducrau vor ihm stand, eine kurze Pfeife zwischen den Zähnen.
»Bekommen Sie allmählich einen Begriff von der Sache?«
Er deutete mit einer Kinnbewegung an, dass er das Treiben im Hafen und an der Schleuse meinte, und nicht den Anschlag. Er war viel munterer als am Vortag, schien sich mit weniger Hintergedanken zu tragen.
»Sie sehen, das Wasser bildet eine Art Gabelung, die bis zur Seine reicht. Das hier ist der Marnekanal. Etwas weiter drüben fließt die Marne selbst, die an dieser Stelle nicht schiffbar ist. Dann die Haute-Seine. Über die Haute-Seine gelangt man ins Burgund, zur Loire, nach Lyon, Marseille. Le Havre und Rouen sind über die Basse-Seine erreichbar. Zwei Gesellschaften teilen sich den Handel: die Générale
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