Maigret - 18 - Maigret in Nöten
Ich bitte Sie nicht einmal, mir Stillschweigen zu versprechen, denn falls Sie das Pech haben sollten, auch nur ein Wort verlauten zu lassen, werde ich Sie fertigmachen. Also, zunächst sind da – die kennen Sie – die Tochter, eine ebenso jämmerliche Figur wie ihre Mutter, sowie der Sohn. Bei ihm bin ich mir noch nicht recht im Klaren, aber ich glaube kaum, dass aus ihm noch etwas werden wird. Haben Sie ihn kennengelernt? Nein? Nett, schüchtern, wohlerzogen, anhänglich und kränklich! Nun habe ich aber noch eine weitere Tochter. Sie sprachen eben von Gassin. Ein guter Junge. Immerhin hatte er eine ganz erstaunliche Frau; ich habe mit ihr geschlafen. Er weiß nichts davon. Wenn er es erfahren würde, wäre er zu allem fähig, denn es ist noch nie vorgekommen, dass er nach Paris ging, ohne Blumen an ihr Grab zu bringen. Und das nach sechzehn Jahren!«
Sie hatten den Pont des Tournelles überquert und kamen auf die Ile Saint-Louis, die ganz in ländlichem Frieden dalag. Ein Mann mit einer Matrosenmütze kam, als sie vorbeigingen, aus einem Café und lief hinter Ducrau her. Maigret blieb etwas abseits stehen, während die beiden ein paar Worte miteinander wechselten, und diese ganze Zeit über musste er an Aline denken, die ihm zunehmend unwirklich erschien.
Vorhin schon hatte er sich die ›Toison d’Or‹ vorgestellt, wie sie über die spiegelglatten Kanäle glitt, die blonde Frau am Steuerruder, der Alte hinter seiner Maschine, und auf Deck, in einer Hängematte oder auf den brennend heißen, teerigen Schiffsplanken liegend, ein furchtbar gelehrsamer junger Mann, der sich von seiner Krankheit erholte.
»Einverstanden, Sonntag um acht«, hörte er Ducraus Stimme laut hinter sich.
Und zu Maigret fügte er hinzu:
»Ein kleines Fest, das in Nogent für einen meiner Männer organisiert wird, der seit dreißig Jahren auf demselben Schiff dient.«
Ihm war heiß geworden. Sie waren seit über einer Stunde unterwegs. Geschäftsleute klappten die Läden ihrer Boutiquen auf, und Sekretärinnen, die sich verspätet hatten, hasteten durch die Straßen.
Ducrau sagte nichts mehr. Vielleicht erwartete er, dass Maigret wieder dort anknüpfen würde, wo sie in ihrem Gespräch unterbrochen worden waren, aber der Kommissar schien zu träumen.
»Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie so weit führe. Kennen Sie das Café ›Henri IV‹ in der Mitte des Pont-Neuf? Nicht weit von der Kriminalpolizei. Ich wette allerdings, Ihnen ist noch nie aufgefallen, dass es nicht ein Café wie alle andern ist. Wir treffen uns dort jeden Tag zu fünft oder zu sechst, manchmal sind es auch mehr. Es ist eine Art Börse der Befrachter.«
»War Aline schon immer etwas verrückt?«
»Sie ist nicht verrückt. Sie haben das entweder falsch gesehen, oder aber Sie verstehen nichts davon. Sie ist einfach in ihrer Entwicklung etwas zurückgeblieben, der Arzt hat es mir gut erklärt. Mit ihren neunzehn Jahren hat sie, wenn Sie so wollen, die Mentalität eines zehnjährigen Mädchens. Aber sie kann die verlorene Zeit wieder aufholen. Man hatte es sogar fast erwartet anlässlich der … Geburt …«
Er hatte das Wort sehr leise, fast beschämt ausgesprochen.
»Weiß sie, dass Sie ihr Vater sind?«
Er fuhr auf, ganz rot im Gesicht.
»Das dürfen Sie ihr niemals sagen! Sie würde es sowieso nicht glauben. Und dann darf Gassin auf keinen Fall, verstehen Sie, auf gar keinen Fall etwas davon ahnen!«
Wenn der alte Kapitän wieder so früh dran war wie gestern, saß er um diese Zeit schon wieder betrunken in einem der beiden Lokale.
»Und Sie glauben, er hat keinen Verdacht?«
»Ganz sicher nicht.«
»Auch sonst niemand?«
»Keiner außer mir hat je etwas gewusst.«
»Ist das der Grund dafür, dass die ›Toison d’Or‹ länger als die andern Schiffe zum Entladen und Laden im Hafen bleibt?«
Das war so selbstverständlich, dass Ducrau zur Antwort nur mit den Schultern zuckte und dann seinen Tonfall und Gesichtsausdruck änderte:
»Zigarre? Sprechen wir nicht mehr davon, bitte …«
»Und wenn das ganze Drama da seinen Anfang genommen hätte?«
»Aber nicht doch!«
Er war kategorisch, beinahe drohend.
»Gehen wir hinein. Es dauert nur zwei Minuten.«
Sie waren beim Café ›Henri IV‹ angelangt; die Kundschaft bestand aus einfachen Matrosen, die um die Theke herumstanden. Aber es gab noch einen andern, durch eine Zwischenwand abgetrennten Raum, und dort schüttelte Ducrau einigen Gästen die Hand, ohne ihnen Maigret vorzustellen.
»Stimmt
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